Lehrerkind
aus mir schon früh einen zweifelnden Agnostiker gemacht, ich glaubte nichts, was ich nicht persönlich gesehen hatte, das galt für den Yeti genauso wie für den lieben Gott oder die Mondlandung. Auch wenn ich aufgrund meiner absurden Dämlichkeit oft nah daran gewesen war, die Existenz meines Schöpfers persönlich zu überprüfen, hatte ich immer knapp genug überlebt, um meinen familiär bedingten Atheismus aufrechterhalten zu können. Trotzdem war ich immer ziemlich gut gewesen in Religion, in der Grundschule ebenso wie auf dem Gymnasium. Vielleicht lag es an der erzchristlichen Orientierung meiner Großeltern mütterlicherseits, die wohl mehrmals während meiner Ferienbesuche versucht haben, mich ohne Wissen meiner Eltern notzutaufen, und die vor dem Schlafengehen immer »Oh Haupt voll Blut und Wunden« sangen, anstatt mir ein Pixiebuch vorzulesen. Der ganze Gottglauben ging mir ab, die Stories vom gierigen Zöllner Zachäus oder dem Erzengel Michael könnte ich aber heute noch im Halbkoma runterleiern.
Meine Religionslehrerin Frau Zippert war ein eigenartig freudloses Wesen, das schlimmer nach Kölnisch Wasser roch als ein Kegelausflug vom Altersheim. Frau Zipperts Alter war wegen ihres sonderbaren Kleidungsstils, der irgendwo zwischen Miss Marple und Uschi Blum schwankte, schwer zu schätzen. Ich denke, sie war zwischen 20 und 70 Jahren alt. Frau Zipperts Mimik saß straffer als das Toupet von Elton John, unter den Schülern machte das Gerücht die Runde, sie würde sich, wenn sie mal lachen wollte, in ein eigens gegrabenes Loch im Keller legen und dann spöttisch husten. Ihre braunen Haare standen trotz akkurater Trimmung immer von ihrem bleichen Schädel ab, es wirkte ein wenig, als wäre eine Katze auf ihrem Kopf verstorben und festgewachsen.
Seit Frau Zippert bei einem Klassenausflug mal einen Schüler, der laut »Scheiiiiße« rief, ermahnt hatte, das »braune Wort« nicht zu sagen, nahm sie eh keiner mehr ernst. Das braune Wort. Pffft. Außerdem hatte Frau Zippert eine Angewohnheit, die ihre Nähe für die meisten Menschen zu einer wahren Belastungsprobe machte. Sie atmete laut, sehr laut. Die kleine, schmale Frau Zippert schnaufte mit jedem Atemzug wie ein Mastochse, der versuchte, eine Kokosnuss zu kacken. Woher diese Eigenschaft kam, war allen ein Rätsel, vielleicht war Frau Zipperts respiratives Gewaltschnaufen der unbewusste Ausdruck einer unterschwelligen Frustration, die sich über die Jahre ihres ereignislosen Daseins auf diesem Planeten angestaut hatte. Vielleicht hatte sie als Kind auch einfach mal versucht, sich eine Madonnenstatue in die Nase zu stecken. So oder so, Frau Zippert röhrte bei jedem Atemzug den halben Klassenraum zusammen, und manchmal, wenn sie grunzend wie ein Hammerwerfer die Luft einsog, sah ich ein paar Mädchen in der ersten Reihe ängstlich ihre Schreibblöcke festhalten. Frau Zippert mochte mich, denn im Gegensatz zum Rest meiner Mitschüler, für die Jesus und das Alte Testament ungefähr so interessant waren, wie ein zweistündiger Film über Chlorbleiche von Toilettenpapier, zeigte ich wahres Interesse am Unterrichtsstoff, arbeitete aktiv mit und durfte, da ich nun einmal der einzige Motor des Unterrichts war, trotz meiner Konfessionslosigkeit teilnehmen. An diesem Mittwoch in der sechsten Stunde nun stellte ich Frau Zipperts restliche Zurechnungsfähigkeit auf eine harte Probe. Nach Monaten als Kirschstreusel hatte ich endlich wieder die Züge eines Menschen angenommen. Die Rückgabe einer Klausur war geplant, und ich hatte ein ungewöhnlich gutes Bauchgefühl. Das gleichmäßige Schnaufen von Frau Zippert drang durchs Klassenzimmer, während sie mit gespitztem Mund die Reihen abschritt und einem Schüler nach dem anderen sein persönliches Urteil offenbarte. In den meisten Fällen war es vernichtend, Thomas Moorenbecker hatte in seiner Klausur besonders eindrücklich die Rolle von Martin Luther King bei der Bekämpfung der Ablasspraxis in der katholischen Kirche betont, ein anderer hatte den Sohn Gottes »Juzus« genannt.
Frau Zippert legte die vernichtenden Klausuren regungslos hin, in dem Fernsehtestbild ihrer Seele konnte ein schlechter Klausurdurchschnitt schon lange keinen Tornado mehr entfachen. Als sie vor mir stand, sah sie auf meine Klausur, nickte einmal wohlwollend und legte mir eine glatte Eins hin. Plötzlich veränderte sich die Starre ihres Gesichts, ihre geraden Mundwinkel verbogen sich abwärts, und über ihre faltige Stirn fiel eine Furche,
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