Lehrerkind
die wie eine endlose Arschritze aussah. Ihre Pupillen fingen an zu zittern, ihr verdorrter Leib geriet in eine unaufhörliche Schwingung. Ich drehte mich um und schaute, ob vielleicht der Klassenraum in Flammen stand. Doch alles war in Ordnung. Dann merkte ich, dass auch die anderen Schüler mich mit größter Skepsis anstarrten. Ein dunkelroter Tropfen rann auf meiner Nase herab und platschte auf die vor mir liegende Klausur. Auf meiner Stirn prangte tatsächlich ein daumengroßes Loch, von dem aus sich eine Blutspur quer über mein Gesicht zog. Frau Zippert sah mich völlig gebannt an, dann bekreuzigte sie sich und rieb an dem kleinen Silberkruzifix, das sie immer bei sich trug.
Entgegen Frau Zipperts erster Vermutung, waren aber weder der Teufel noch Juzus oder der Heilige Geist in mich gefahren, nein, mein Stigma war vielmehr die finale Nebenwirkung von Ruraxilin. Spontane Blutungen der oberen Hautschichten. Ich erinnerte mich, wie mein Vater die Nebenwirkung rot unterstrichen hatte.
Frau Zippert starrte mich immer noch an. Anstatt sich allerdings auf mich zu stürzen und mir den Teufel auszutreiben, bewegte sie sich geräuschlos rückwärts, schüttelte mechanisch den Kopf und verließ, immer noch mir zugewandt, den Klassenraum. Es war das letzte Mal, dass ich Frau Zippert gesehen habe, sie ließ sich berufsunfähig schreiben und wurde später an eine neue Schule versetzt. Die anderen Schüler waren seit diesem Vorfall zwar immer noch nicht meine Freunde, ich genoss aber die nächsten Jahre das Ansehen, ganz im Alleingang eine Lehrerin von der Schule vertrieben zu haben. Eine durchaus positive Nebenwirkung von Ruraxilin.
Der Lateinlehrer
Kommen wir nun zu einer Spezies Lehrer, deren Beschreibung ein besonderes Fingerspitzengefühl verlangt, dem Lateinlehrer. Das Selbstvertrauen des gemeinen Lateinlehrers speist sich einerseits zwar daraus, dass er ein besonders altehrwürdiges und klassisches Fach unterrichtet, ist andererseits aber auch stark davon angekratzt, dass sein Lehrgegenstand in etwa die gleiche Alltagsnähe und Relevanz hat wie das Erlernen des Morsealphabets oder der Schädelvermessung. Der Lateinlehrer lebt ständig in der Grauzone zwischen selbst empfundener Wichtigkeit der lateinischen Sprache (»Allein schon für die humanistische Bildung, mein Kind!«) und dem aufkeimenden Bewusstsein, dass man ebenso gut Hirschpaarungslaute oder Klingonisch lehren könnte. Als Reaktion auf diese innere Dissonanz versucht sich der Lateinlehrer im Schulalltag durch das Tragen von Filzjacken-Cordhosen-Kombinationen in Taubenkotdunkelgrün zu tarnen und so die vierzigjährige Dienstzeit in der Lauerhaltung eines Kieselsteins einfach auszusitzen.
In der Zwischenzeit wird auf Lehrerseite dekliniert und konjugiert, was das Zeug hält, während auf Schülerseite eher malträtiert und defloriert wird. Der Lateinlehrer hangelt sich mit dem andauernden Bewusstsein der eigenen Obsoleszenz durch den Schuldienst, was eigentlich den Sportlehrern gut zu Gesicht stehen würde, von diesen aber (leider!) so nicht empfunden wird. (Warum das so ist, erkläre ich später.)
Den Hinweis der Schüler, dass Latein »so tot wie Napster« sei, überhört der nicht gerade technikaffine Lateinlehrer gern, ebenso wie die Frage, warum in »Ben Hur« und
»Gladiator« denn kein Latein gesprochen werde, wenn die Sprache doch so bedeutsam sei?
Eigentlich wäre es sinnvoller, Jugendliche in der Mammutjagd und der Wartung von Gaslaternen zu unterrichten, anstatt jahrelang über eine Sprache zu dozieren, die höchstens bei einer Berufung in den Vatikan noch vonnöten ist.
Natürlich muss erwähnt werden, dass viele Hochschulfächer, allen voran Medizin und Theologie, das Latinum voraussetzen, allerdings ist auch hier in der alltäglichen Praxis die wirkliche Verwendung der lateinischen Sprache fraglich.
Als mögliches Beispiel für die Alltagsfremde der lateinischen Sprache sei folgendes Gespräch zwischen einem Arzt und seinem Patienten als Beispiel gegeben:
Der junge Assistenzarzt Ingo Hullermann, gerade aus dem lateingeprägten Medizinstudium entlassen, klärt Herrn Göller, 72, gerade aus dem jahrelangen Vollrausch entlassen, über ein akutes medizinisches Problem auf.
Dr. Hullermann: »So, Herr Göller, nach eingehender medizinischer Diagnostik muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie an Steatosis hepatis leiden.«
Herr Göller: »Watt?« (Dreht sich eine Zigarette, speichelt hustend das Filterblättchen ein und wirkt im Gesamten
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