Lehrerkind
Freiheit des Studentendaseins trennte, das ich schon so lange herbeisehnte.
Nina und ich tranken Schnaps, schwiegen und sahen aus dem Fenster. Der Passat meiner Eltern rumpelte über die durchlöcherte Hauptstraße Gelsenkirchens und ich dachte an die vielen Jahre, die ich diese Strecke mit meinem Vater gefahren war. So oft hatte ich Krankheiten vorgetäuscht, um nicht in die Schule zu müssen, und trotzdem machte sich nun eine leichte Melancholie in mir breit. War das jetzt wirklich alles vorbei? In wenigen Wochen würden alle Schüler, alle, die ich gekannt, gemieden oder gar gemocht hatte, auseinanderstreben wie ein brennender Ameisenhaufen. In ein paar Jahren würden wir uns dann auf einem dieser unseligen Klassentreffen wiedersehen, uns gegenseitig mit unseren Lebensgeschichten langweilen, die Titel und Abschlussnoten vergleichen und hoffen, dass keiner nachfragen würde, warum man statt für Amnesty nun doch als Tabak-Lobbyist arbeitete.
Die Stadthalle war ein grauer Klotz aus Zement und Spanplatten, im Inneren wummerte der hohle Beat eines Bierzeltschlagers durch die Gehörgänge zahlloser glücklicher Elternteile, die mit Camcordern und Plastikbechern bewaffnet kaum auf ihren Stühlen zu halten waren. Vor der Verleihung der Abiturzeugnisse gab es noch einen Auftritt des Schulorchesters (die »Shitties« gehörten seit dem Musikfest leider nicht mehr zum Line-up) und Simon Powalla gab ein paar seiner besten Zaubertricks zum Besten. Da der »Große Powalla« wie er sich in einem Anfall von akutem Größenwahn nannte, bedauerlicherweise die kommunikativen Fähigkeiten eines Tannenzapfens besaß, ging seine Zaubershow jedoch ein wenig zwischen der Buffeteröffnung und der Rede unseres Schuldirektors unter.
»Eine große Zukunft« stünde uns bevor, »Fenster zu einer neuen Zeit« würden sich öffnen und »ungeahnte Möglichkeiten« in unseren Händen liegen. Ich kam mir vor wie ein Teilnehmer der ersten bemannten Marsmission und Nina zwickte mir während der Rede mehrmals in den Arm und flüsterte »was für eine Scheiße«. Mittlerweile hatte ich begriffen, dass nicht nur mein leichter S-Fehler mit ihrem nasalen Tonfall ziemlich gut harmonierte, sondern wir auch eine gepflegte Verachtung für dieses Spektakel teilten, was sie zur perfekten Begleiterin bei dieser Familienkirmes für Betrunkene machte.
Dann kam der große Moment, mein Name wurde aufgerufen und aus den Boxen schepperte der von mir eigens dafür ausgesuchte Song »You can’t always get what you want« von den Rolling Stones. Ich trat auf die Bühne und ein sichtlich verwunderter Schulleiter überreichte mir mein Abiturzeugnis. Mit väterlicher Geste legte er mir seine fleischige Hand auf die Schulter, nickte professionell freundlich und schob mich dann in Richtung Bühnenausgang. Meine fünfzehn Minuten Ruhm waren auf ganze acht Sekunden zusammengeschrumpft: Scheinwerferlicht in meinem Gesicht, schwitziger Händedruck, auf Wiedersehen.
Als ich mich wieder an den Tisch zu meiner Familie setzte, nickte mein Vater mir anerkennend zu, er hatte wohl verstanden, was ich mit dem Song meinte. Meine Mutter hatte begonnen, sich mit Nina über die einzelnen Lehrer der Schule lustig zu machen und Frau Marxloh hatte ihr Dracula-Kostüm mittlerweile abgelegt und sah so noch gruseliger aus als bei ihrer Versenkung im Schulgarten. Dr. Bommelheim, unser ehemaliger Biologielehrer, füllte sie langsam aber sicher mit Fruchtbowle ab und schäkerte mit ihr herum, während sie sich ständig verschämt die Hand vor den Mund hielt.
Als mit Zorbas Zantinidis auch der letzte Schüler sein Zeugnis erhalten hatte, war ein Großteil des Saals eingenickt, zu betrunken, um noch zuzuhören, oder damit beschäftigt, Frau Marxloh und Dr. Bommelheim beim Knutschen zuzusehen. Dann wurde die Tanzfläche eröffnet. Lieber hätte ich vor einer Gruppe Taliban aus der amerikanischen Verfassung vorgelesen, als öffentlich zu tanzen. Für mich war der aufrechte Gang schon eine Leistung, sich jetzt auch noch rhythmisch zu Musik zu bewegen war unvorstellbar. Plötzlich sprang Nina auf, griff nach meiner Hand und zog mich aufs Parkett. Widerwillig stand ich dort herum, bis sich die Musik schließlich durch meinen Kopf hinab in meine Füße fraß und sich erste unkontrollierte Zuckungen einstellten. Nina warf ihre Arme und Beine schon eine ganze Weile völlig ungehemmt durch die Gegend und hatte einen Mordsspaß an meinen verklemmten Dancemoves. Es war ihr anscheinend völlig gleich,
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