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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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was die anderen von ihr dachten. Sie schien verinnerlicht zu haben, was ich seit meiner Einschulung oft vergeblich versucht hatte. »Was kümmert es den Mond, wenn ihn ein Hund anbellt«, hatte mir mein Großvater schon damals zugeflüstert. Also gab ich alles, schloss meine Augen und tanzte.

Der Zivildienst
    Ich hielt den grünen Umschlag in meinen Händen. Befühlte das Papier, billige Recyclingware, wie sie von den Behörden tonnenweise genutzt wurde. Auf dem Schreiben prangte das Siegel der Stadt Gelsenkirchen, meine Sachbearbeiterin Frau Betomskie hatte persönlich unterschrieben, die harten Kanten ihrer Schreibe hatten sich tief in den matten Zellstoff gegraben. Serifenlose Beamten-Unterschrift.
     

Leise Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln, ich war überwältigt. Nach meinem gefühlt jahrzehntelangen Exil auf der Marsoberfläche durfte ich endlich zurück zur Erde und mich dort in die menschliche Gesellschaft reintegrieren. Neun Monate hatte ich stoisch jeden Tag meiner extraterrestrischen Existenz als Zivildienstleistender erduldet, hatte mich von Kindern aller sozialen Randgruppen herumdirigieren lassen und meine Tage zu oft neben einem Kollegen gefristet, der wegen irgendeines Strafdelikts Hunderte Sozialstunden ableisten musste. Marcel Kowalski war der personifizierte Lexikoneintrag unter dem Wort »Durchschnitt«, der graue Median der Menschheit, die Halbfettmargarine im Kühlregal. Wir hatten außer unserem Posten in der Kindertagesstätte Spieledorf eigentlich nur gemein, dass wir den Mund zum Essen und den Po zum Kacken benutzten. Wir hörten unterschiedliche Musik, hatten einen vollkommen gegensätzlichen Humor und mochten nicht mal die gleichen Frauen. Ein Thema, auf das sich die meisten Männer zumindest rudimentär verständigen können. Mein ursprünglicher Plan, den Zivildienst als bezahlte Freizeitmaßnahme über mich ergehen zu lassen, war mal wieder voll danebengegangen. Alle anderen hatten eine entspannte Stelle als Essenausfahrer oder Parkplatzwächter gefunden (wo da der tiefere Sinn für die Gesellschaft lag, war mir schleierhaft). Ich dagegen saß fast ein Jahr in einem ungeheizten Bauwagen, um mich von Kindern aller Altersklassen anspucken zu lassen. Eigentlich keine neue Erfahrung für mich, trotzdem hatte ich gehofft, nach der Schule meine Rolle als Außenseiter abstreifen zu können. Dass dem nicht so war, eröffnete mir der Herrscher der Kindertagesstätte: Erdal. Schon bei unserer ersten Begegnung teilte er mir freundlich und doch bestimmt mit, dass ich nun sein »Knecht« sei, deshalb habe ich mich nun um seinen Pflegehasen »Birol« zu kümmern. Ich musste lachen, dass der Junge in der Pumphose und mit der 3 Kilo schweren Goldkette einen Pflegehasen hatte. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, meinen Backenzahn auf dem staubige Boden des Bauwagens zu suchen. Ich hatte das Abi hinter mich gebracht und fand mich damals zum ersten Mal nicht ganz so scheiße, außerdem hatte ich mir in jahrelangem Außenseitertum einen ganz guten Musikgeschmack angeeignet, ich hatte ja Zeit. Mein Kollege Marcel hingegen stand auf Schlager, lachte über Mario Barth und liebte kurzhaarige Frauen mit sonnengegerbtem Gesicht und burschikoser Reibeisenstimme. Seine Freundin war eine Mischung aus Hella von Sinnen und der herben Roswitha vom Sonnenstudio. Magda war ihr Name, und sie saß einen Großteil unserer Arbeitszeit auf seinem Schoß herum und schob ihm ihre gepiercte Zunge in den Rachen, als wäre sie die Azubine beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Ich saß ihnen dann gegenüber und phantasierte darüber, wie ich mir einen Flaschenöffner in die Hirnhaut kurbelte. Andernfalls ging ich nach unseren zahllosen Kaninchen, Gänsen, Hühnern oder Schafen sehen, die die Stadt Gelsenkirchen früher einmal als Maßnahme zur Therapie sozial auffälliger Kinder angeschafft hatte. Die Jugendlichen der Gegenwart aber ignorierten die plüschigen Heilsbringer geflissentlich, wenn sie nicht sogar absichtlich gequält wurden. Die Kita Spieledorf war ein glorreiches Relikt der Achtzigerjahre. Als die Einrichtung begründet wurde, hatten die Männer noch Vollbärte und den postnuklearen Idealismus der Hippiegeneration mit sich herumgetragen, im Fernsehen lief die Biene Maja, während Nena gerade 99 Luftballons steigen ließ. Die Kita hatte ein zweites Zuhause für Kinder aus bildungsfernen Schichten sein sollen, ein Rückzugspunkt für Heranwachsende mit sozialen Problemen und Ängsten.
    In der Gegenwart war

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