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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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Comic-Bienen, die mit einer Spritze in der Hand für die jährliche Impfung warben, durchschnitt lautlos die klamme Luft des Behandlungszimmers. Mein Ansinnen, mir den Zivildienst zu ersparen, quittierte Dr. Weiler nur mit einem schlaffen Kopfnicken, von einem moralbefreiten, faulen Haufen wie mir war wohl nichts anderes zu erwarten gewesen. Ich erklärte, ich wolle direkt nach dem Abitur mit dem Medizinstudium beginnen und mir nicht noch wertvolle Lebenszeit durch den Zivildienst stehlen lassen. Natürlich eine heillose Lüge, denn auch wenn ich mein Abiturzeugnis noch nicht in Händen hielt, ließ sich jetzt schon prognostizieren, dass meine Abschlussnote eher in Richtung Lehramt oder vergleichende Textilwissenschaften weisen würde. Klang aber gut, außerdem erhöhte sich so die Hoffnung, Frau Doktor würde mir eher einen Freibrief für die Freiheit ausstellen.
    Ich sah schon den roten Diagnosebogen vor mir, in dem Frau Dr. Weiler ihre Entscheidung begründete:
    »Liebe Kollegen und Kolleginnen vom Kreiswehrersatzamt Recklinghausen. Ich schreibe Ihnen heute in der Sache Bielendorfer, Bastian, geboren am 24. 05. 1984 und am 06. 03. 2003 verpflichtet, bei Ihnen zur Musterung vorstellig zu werden. Meine Botschaft lautet: Der Junge ist ein medizinischer Trümmerhaufen und im Gesamten von so unansehnlicher Statur, dass ich dem Gemeinwohl folgend am ehesten eine Verbannung auf Elba vorschlagen möchte. Herr Bielendorfer ist im besten Falle nutzlos. Würde Gott ihn morgen durch einen kilogrammschweren Berg aus Hüttenkäse ersetzen, würde er der Menschheit einen Dienst erweisen. Es gibt nichts, ja, ich muss betonen: nichts, wozu ich Bastian Bielendorfer für fähig erachte. Es gibt keinen Teil seines Körpers, den ich mir bei einer Arbeitstätigkeit vorstellen kann, es sei denn, er legt sich als Türstopper in den Eingangsbereich. Wenn Sie einen Betrieb zielsicher zugrunde richten wollen, nehmen Sie ihn oder einen Kanister Benzin mit Sturmfeuerzeug.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Dr. Simone Weiler
     
    In Frau Dr. Weilers Gesicht war bisher allerdings kaum ein so flammendes Engagement für mein Anliegen zu erkennen, nur der spröde Charme ihres immerwährenden Gleichmuts ließ mich noch daran glauben, dass ich eine Chance hatte, diesem Mist aus dem Weg zu gehen. Dann erklärte sie, dass keines meiner Gebrechen massiv genug ausgeprägt sei, um dem Zivildienst völlig zu entgehen, was mich ehrlich gesagt überraschte, da ich aufgrund der kompletten Schlaffheit meines Körpers kaum in der Lage war, aufrecht zu sitzen. Frau Dr. Weiler meinte, mein einziger Ausweg sei die Psychoschiene. In meinem Kopf sah ich mich schon bei der Musterung Selbstgespräche führen: Wenn die Ärzte mich nach meinem Befinden fragten, würde ich einfach mehrmals »Mein Schaaaaaatz, nein, nein, du bekommst ihn nicht, denn er ist mein Schaaaaatz, er will zu miaaaa« zischen und mich auf dem Linoleumboden in der Ecke zusammenkauern. Sie könne mir »psychosoziale Anpassungsstörungen« attestieren, bot Frau Dr. Weiler an, was bedeute, dass ich in Gesellschaft nicht zu gebrauchen sei und selbst mit dem Dalai Lama in Streit geraten würde. Dementsprechend sei ich auch für den Zivildienst nicht tauglich, es sei denn, es fände sich eine Zivildienststelle, bei der mehrminütiger Kontakt zu anderen Menschen definitiv auszuschließen sei. Ich sah mich schon in einem Bunker 500 Meter unter dem Erdboden Fässer mit Atommüll bewachen, doch Frau Doktor hustete meinen sorgenvollen Blick einfach weg. Es kann auch ein Lachen gewesen sein, bei ihr ließ sich der Übergang vom asthmatischen Husten zum Humor schlecht ausmachen.

In the Army Now …
    Ein paar Tage später stand ich also unter dem tiefgrauen Himmel Recklinghausens, es war ein Mittwochmorgen, Kinder mit absurd großen Tornistern schleppten sich durch den Nieselregen zur Schule. Vor mir lag das Kreiswehrersatzamt, ein riesiger alter Backsteinbau, auf dessen Rasen ein paar beachtlich große Hundehaufen lagen. Ich fühlte mich ganz ähnlich beschissen. Mein Vater empfahl mir durch das geöffnete Autofenster, noch »ein wenig undeutlich zu sprechen«, dann fiel ihm ein, dass ich das wegen meines abstrusen Gelispels sowieso schon tat, und er fuhr zuversichtlich winkend davon.
    Schon im Warteraum bot sich ein auffälliges Soziogramm der Lebenswirklichkeit Heranwachsender aus der bildungsnahen Mittelschicht. Auf der einen Seite saßen die stramm gescheitelten Konservativen, die sich schon darauf

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