Lehrerzimmer
jenem Heft sei fächerübergreifend beschrieben, was Kreativität überhaupt ist, wie die Bedingungen für eine Entstehung von Kreativität aussehen, welche Hirnprozesse für eine Beschleunigung des kreativen Tempos zuständig sind und wie all dies unterstützend vorbereitet, durchgeführt, begleitet und nachbereitet werden kann.
In der Direktorenkonferenz, sagte Höllinger nach einer kleinen Pause, sei jedoch bezüglich einer wichtigen Frage eine heftige Diskussion entbrannt. Man habe eindringlich über das Thema der Bewertung von kreativ erbrachten Leistungen gestritten. Vornehmlich sei es dabei um die Frage nach dem Wie der sogenannten KB , der Kreativitätsbewertung, gegangen, außerdem um die Frage der juristischen Anfechtbarkeit von KB s. Eltern, habe man gesagt, hätten oft genug bewiesen, dass ihnen kein Gang zu einem Anwalt zu mühsam erscheine. Beim geringsten Aufleuchten einer wie auch immer gearteten Anfechtungsmöglichkeit, habe es geheißen, würden die Eltern sofort von ihrem Recht Gebrauch machen, ihre Töchter und Söhne vor möglichen Versetzungsaussetzungen oder Abiturkatastrophen zu bewahren. Und wenn nun, habe es geheißen, der Kreativität im Unterricht ein derart hoher, in gewissem Maße geradezu unangemessen hoher Anteil – im Vergleich zur objektiv messbaren Wissensvermittlung – eingeräumt werde, so müsse eine lückenlose Absicherung erfolgen, durch die eine Bewertung der kreativ erbrachten Erzeugnisse unanfechtbar werde. Das bedeute: Man müsse innerhalb der einzelnen Gymnasien einen detaillierten Katalog erstellen, in dem eine Bewertung von Kreativitätsleistungen Punkt für Punkt geregelt sei. Man müsse klar abgesteckte Kreativitätsbewertungs kriterien erstellen. Zu diesem Zweck, so der Beschluss der Direktorenkonferenz, habe ein jedes Gymnasium eine Kreativitätsbewertungskriterienerstellungskommission, kurz KBKEK , zu gründen, die sich unverzüglich an die Aufgabe zu machen habe, Kreativitätsbewertungskriterien zu erstellen. Nur so könne in das drohende Chaos der ungezügelt um sich greifenden Kreativität ein ordnender Faden gewebt werden, nur so sei man gefeit vor juristischen Angriffen aller Art, nur so könne man den Schülern helfen, herauszufinden, was wir, die Lehrer, von ihnen, den Schülern, erwarten.
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A ls ich am Mittag im Zug saß, spannte sich eine nackte Leine der Leere durch meinen Geist, ich hing erschossen auf dem Sitz, ließ mich vom Zug fortfahren, stieg im Stuttgarter Kopfbahnhof mechanisch aus und nahm die U-Bahn. Ich kaufte mir am Stand an der Ecke einen Kebab, aß in Jacke am Küchentisch sitzend stumpf vor mich hin, kaute, biss, kaute, warf den öligen Rest des Brotes fort, putzte mir die Zähne, legte mich aufs Bett und schlief drei Stunden lang durch. Ich hatte vergessen, den Wecker zu stellen, und erwachte um fünf. Ich erschrak zu Tode. Ich setzte mich sofort an den Schreibtisch und stellte aufatmend fest, dass ich am nächsten Tag nur drei Stunden zu halten hatte, zwei von ihnen, 9a und 5a, hatte ich schon vorbereitet, blieb noch eine übrig: 10d. Minutiös entwarf ich das Stundenverlaufsprogramm. Ich nahm mir die Kritik des Direktors zu Herzen und überlegte mir, mit welcher Frage ich mich in welcher Minute der Stunde an die Schüler wenden, welche möglichen Antworten die Schüler geben und wie ich auf diese Antworten scheinbar spontan reagieren könnte. Ich überlegte mir auch, welche Assoziationen der Text bei den Schülern auslösen und wie diese Assoziationen sich im Geist der Schüler zu möglichen Vokabelfragen transformieren könnten, Vokabelfragen, die sie mir stellen würden, nicht, weil sie sich für das erfragte Wort interessierten, sondern um mich, mein Wissen und also meine Kompetenz als Lehrer im Ganzen zu überprüfen. Murmeln war eines der Übersetzungsworte, das im Text vorkam, Murmeln, dachte ich, die Schüler könnten von diesem Wort ausgehend nach Murmel tier fragen, ground hog , das war mir bekannt, Murmeltier, Schlaf, Winterschlaf schlug ich nach, von Winterschlaf könnte man zu Nahrungsmangel gelangen, Nahrungsmangel oder Nahrungsbeschaffung, schlug ich nach, ferner Horten und Hamstern, schlug ich nach, von Winterschlaf, dachte ich, könnte aber auch ein direkter Weg zu Winter und von Winter zu Wintersport führen, zu Rennrodeln, Lawinengefahr, Verschüttungen, Bernhardiner, meine Liste wuchs. Um halb acht hatte ich endlich das Gefühl, genügend für alle Unwägbarkeiten der Stunde gerüstet zu sein, und schob meine
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