Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
Vom Netzwerk:
Unterlagen beiseite. Ich schloss kurz die Augen und malte mir aus, wie einer der Schüler mich nach dem englischen Ausdruck für Lawinengefahr fragen und ich den Begriff aus der Hüfte heraus, locker und ohne Zögern auf den Schüler schießen würde, und als ich meine Schultasche packte, überlegte ich noch, wie ich die Schüler vom Murmelspiel des Textes auf die Lawinengefahr bringen könnte, falls sie wider Erwarten nicht von selber darauf zu sprechen kamen, sah dann aber auf die Uhr und dachte, Ratskeller, wenn du jetzt losgehst, kommst du noch rechtzeitig.
    Drei Lehrer saßen im Hinterzimmer des Ratskellers, dicke Vorhänge vor den Fenstern, Rauch in der Luft, ich stand einen Augenblick an der Tür und sah auf den Tisch, an dem sie saßen, noch hatte mich niemand gesehen, ich erkannte Josef Jensen, und plötzlich überfiel mich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, ich drehte mich um, spürte den Drang, wegzugehen oder aber hinter die schweren Vorhänge zu schauen, ob dort jemand stünde, der es nicht gut mit mir meinte. Da aber hatte mich Josef Jensen schon gesehen, stand auf und winkte mir zu. D’Artagnan, rief er. Ich trat an den Tisch. Jetzt, unter der nackten Glühbirne, erkannte ich einen der beiden anderen Lehrer wieder. Es war die zweite GLK -Gegenstimme, klein, untersetzt, mit grauem Stoppelbart. Ich kramte in meinem Kopf nach seinem Namen. Herr Renner? fragte ich. Achim Renner, nickte er, Sport, Erdkunde und Psychologie. Der Dritte wurde mir als Pascal vorgestellt, das sei zwar nicht sein richtiger Name, sagte man, aber jeder an der Schule nenne ihn so, Religion, Philosophie, er war fast zwei Meter groß und hatte eine kaum wahrnehmbare, säuselnde Fistelstimme. Als man mir ein Bier gebracht hatte, ergriffen die drei ihre Gläser, ließen sie über dem Tisch zusammenknallen, ich tat mit, und Achim sagte: Einer für alle, alle für einen. Wir tranken. Es stellte sich heraus, dass die drei den harten Kern der sogenannten KG bildeten, einer Konspirativen Gruppe , die sich zum Ziel gesetzt hatte, das geltende Schulsystem zu unterminieren. Jedoch nicht wirklich , wie man sogleich einschränkte, da man den eigenen Arbeitsplatz keinesfalls ernsthaft würde aufs Spiel setzen wollen, sondern lediglich, wie man sagte, verbal. Also ein Kreis von Revolutionären, die nichts taten, sondern nur darüber redeten, was sie gern tun würden, sowie darüber, in welchem Zustand sich unser korrumpiertes, über und über marodes Schulsystem eigentlich und jetzt schon befand. Ich fragte Josef, weshalb ich, Martin Kranich, als neuer Lehrer sogleich in diesen Zirkel aufgenommen worden sei, und Josef sagte, dass nicht sie, die Gruppe, entscheide, wer dem Zirkel angehöre, sondern der Direktor. Der Direktor? fragte ich. Es gebe da eine Liste, sagte Josef, auf die Höllinger ab und zu den einen oder anderen Lehrer setze, aus den unterschiedlichsten Gründen, der eine wohne nicht in Göppingen, der andere habe schwarze Haare, der Dritte sei eine Frau, der Vierte habe das falsche Fach studiert. Die Liste liege in der untersten Schublade von Höllingers Schreibtisch. Jeder wisse darüber Bescheid. Aber nur wenige hätten die Liste je gesehen. Er, Josef, habe jedoch einen guten Draht zur Putzfrau. Und die habe ihm gesagt, dass Höllinger nun auch mich, Martin Kranich, gleich, von Anfang an, noch vor meinem Einstellungsgespräch, auf die Liste gesetzt hätte. Mich? fragte ich. Ja, dich, sagte er. Aber warum? rief ich. Warum? sagte Achim Renner und grinste. Warum? sagte Pascal und sann vor sich hin. Warum? sagte Josef Jensen und hob erneut das Glas. Sie alle tranken einen Schluck und schwiegen.
    Man gehe unter, flüsterte Pascal plötzlich in die Stille hinein, der Einzelne, der Mensch, die Existenz, das Individuum, man werde verschluckt, verspeist, verspachtelt, zugekleistert mit Kampf und Konkurrenz, das Menschliche, das, was den Menschen allererst zum Menschen mache, sein Herz, die Erkenntnis des Herzens, all das stehe in keinem Bildungsplan, all das, das Eigentliche, das Wichtige, das Wesentliche, werde uns aus dem Innersten unserer selbst gerissen. Zu Maschinen mutierten wir, zu Monstren, zu Missgeburten unserer selbst, wenn wir uns nicht mit aller Macht den Mechanismen dieser Machenschaften erwehrten. Güte und Entgegenkommen, Einfühlung und Wärme müssten die Prinzipien der Lehranstalt sein, fort mit allen Sheriffspielen, aller Kontrolle und allem Anschüren des Leistungsdrucks, man müsse für die Schüler eine Aura der

Weitere Kostenlose Bücher