Lehrerzimmer
noch U-Bahnen? fragte ich. Keine Ahnung, sagte Renner, aber er könne jetzt sowieso nicht mehr ins Bett, er kenne ein Café in der Nähe, das schon offen sei und wo man sich bei drei Kannen Kaffee auf den nächsten Schultag vorbereiten könne. Das sei eine gute Idee, sagte Pascal, und ich schloss mich den dreien an, während mich das Gefühl beschlich, irgendetwas vergessen zu haben. Was das war, merkte ich erst, als wir schwer und noch stinkend vom Alkohol um halb sieben im Zug saßen. Meine Tasche, sagte ich. Was für ’ne Tasche? fragte Renner. Meine Schultasche, sagte ich. Ja und? fragte Pascal. Wie, ja und? fragte ich zurück. Wozu brauchst du eine Schultasche? fragte er. Da sind, sagte ich, meine sämtlichen Vorbereitungen drin. Pascal winkte ab. Er, sagte Pascal, habe noch nie eine Schulstunde vorbereitet, er verlasse sich ganz auf seine ureigenste Intuition. Vorbereitung, sagte er, töte die Spontaneität. Bereite er eine Stunde vor, könne er nicht mehr ganz und echt und nah bei den Schülern sein. Die Philosophie und auch die Religion, wie er sie verstehe, beruhten aber ganz und gar auf der Voraussetzung, voraussetzungs los an die Schüler heranzutreten, ohne irgendeinen vorab gegliederten Gedanken sich ganz und gar auf die Schüler einzulassen. Das beste Tafelbild sei jenes, das im spontan geführten Gespräch entstehe, ein Tafelbild, das sich am Ende der Schulstunde als völlig verkorkst herausstelle und ohne jedes Schuldgefühl ausgewischt werden könne. Holzwege, sagte Pascal, seien die wahren Wege der Philosophie, nur auf Holzwegen lerne der Mensch allererst zu gehen und außerdem zu entscheiden, welche Richtung wirklich einzuschlagen sei. Er, fuhr Pascal fort, beginne jede Stunde regelmäßig mit der an die Schüler gerichteten Frage, was gerade in ihnen vorgehe, was sie umtreibe, wo sie stünden, wo er sie abholen könne, was in ihrem Innersten sie gerade bewege, und von den Antworten der Schüler ausgehend entwickle er die Stunde im Augenblick des ad hoc , in der Immanenz des Moments. Ich wandte ein, dass diese Technik bei der Fremdsprachenvermittlung wohl kaum gelingen könne. Achim Renner gähnte und sagte, Schwellendidaktik. Was? fragte ich. Schwellendidaktik, wiederholte Renner. Wichtigste Fähigkeit eines jeden Lehrers. Und was heißt das? fragte ich. Dass du die Stunde in dem Moment vorbereitest, sagte Renner, in dem du über die Schwelle ins Klassenzimmer trittst. Ach so, sagte ich, aber ich hab ja nicht mal die Bücher dabei. Die kannst du doch ausleihen, sagte Renner, in der Bibliothek. Ich blickte hinüber zu Josef, der die Augenbrauen hob und mit den Schultern zuckte.
9
I n der Schule betrat ich zunächst die Toilette und wusch mir Gesicht und Nacken. Um mich abzutrocknen, musste ich eine sich selbst fressende Handtuchmaschine betätigen. An diesem Morgen, um sieben Uhr fünfzehn, hatte ich, noch umnebelt vom Alkohol, plötzlich einen Augenblick vollkommenster Klarheit. Es durchleuchtete mich mit einem Schlag die Erkenntnis, dass ich beim bisherigen Benutzen derartiger Handtuchspender immer zuerst ein bereits benutztes Stück Handtuch hatte entfernen müssen, um erst dann , in einem zweiten Akt, an dem von mir selbst hervorgezogenen, sauberen Stück meine Hände abtrocknen zu können. Nun aber, an diesem Morgen, um sieben Uhr fünfzehn, dachte ich plötzlich, dass es ganz und gar umständlich war und völlig unerklärlich, warum man zuerst , mit den noch nassen, tropfenden Händen, ein neues Handtuchstück aus dem Spender zu ziehen hatte, um sich erst anschließend abzutrocknen. Bedeutend sinnvoller wäre es doch, dachte ich, wenn man bereits ein sauberes Stück Handtuch am Spender vorfände, sich ohne weitere Mühe und Umstände die Hände abtrocknen könnte und erst danach das neue Handtuchstück hervorzerren würde, sodass ein sauberes Handtuch für den nächsten Benutzer zurückbliebe. Als ich nachrechnete, kam ich zu dem Ergebnis, dass man in beiden Fällen, egal, ob man zuerst am Handtuch zog und sich dann abtrocknete oder aber sich zuerst abtrocknete und dann am Handtuch zog, in beiden Fällen also, je einmal seine Hände abtrocknen und einmal am Handtuch zu ziehen hatte. Der einzige Unterschied war die Reihenfolge der beiden Tätigkeiten. Und mit einem Mal erkannte ich die ganze Niedrigkeit und Ekelhaftigkeit des Menschen. Von solcher Verkommenheit war er, der Mensch, dass er das benutzte Handtuch einfach achtlos zurückließ und dem nachfolgenden Händeabtrockner das Handtuch
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