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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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lassen, und versprach, ihn abzuholen, wenn ich fertig war.
    Ich stand zehn Minuten lang unter der warmen Dusche und versuchte mich zu beruhigen. Die Zeit arbeitete für mich: Selbst wenn jemand unsere Stimmen im Wald gehört hatte, würde er sich nach zweieinhalb Wochen wohl nicht mehr an das genaue Datum erinnern. Noch unwahrscheinlicher war es, dass sich jemand daran erinnerte, dass Heikki und ich im gleichen Bus gesessen hatten. Ich hatte keinen Grund, nervös zu sein.
    Dennoch kam mir alles an mir gekünstelt vor, bis hin zum Wimpernschlag, als ich an Kalles Seite nach Eestinkallio ging.
    Die Temperatur war auf ein paar Grad unter null gefallen, es lag praktisch kein Schnee. Die Sonne versuchte die Farben der Felsen und Baumstämme zum Leben zu erwecken und ließ die Kiefernrinde an manchen Stellen aufglühen. Es wäre schön, hier einen Spaziergang zu machen, den Duft von gefrorenem Moos einzuatmen und das kalte Licht der Sonne zu genießen – in einem anderen Leben. Am Sendemast wurde mir schwindlig, instinktiv ging ich schneller.
    Immerhin vergaß ich nicht, so zu tun, als wüsste ich nicht, wo Heikki Jokinen wohnte. Diesmal roch es im Treppenhaus nach Kartoffel-Anchovis-Auflauf. Ich folgte Kalle in den zweiten Stock, wo er ganz korrekt klingelte, bevor er aufschloss.
    Das Erste, was ich wahrnahm, war der muffige, verqualmte Geruch, der aus dem wochenlang nicht gelüfteten Zimmer kam.
    Dann mussten wir über einen Haufen Reklame, Anzeigenzeitungen und Briefe, die nach Rechnungen aussahen, hinwegstei-gen. Kalle stieg kopfschüttelnd über den Papierhaufen hinweg, ich folgte ihm.
    Die Einzimmerwohnung hatte ungefähr fünfunddreißig Quadratmeter. Für Heikki Jokinen war sie offenbar nur eine Schlaf-und Abstellkammer, um deren Zustand er sich möglichst wenig kümmerte. Im Alkoven stand ein ungemachtes Bett, das Laken lag zwar an seinem Platz, aber das zerlöcherte Kissen war halb aus dem Bezug gerutscht. Die Bettdecke aus ursprünglich hell-blauem Satin war offenbar seit Jahren nicht gewaschen worden.
    Auf dem Fußboden lagen schmutzige Kleider, alte Zeitungen und leere Schnapsflaschen bunt durcheinander. Das Sofa und der Sofatisch waren übersät von Brandlöchern, eine dicke Staub-schicht lag auf dem Fernseher und dem Videorecorder. Die Streifen des Flickenteppichs waren schmutzig verblichen.
    In der Küche standen ein Tisch und zwei Stühle, am einen war die Rückenlehne abgebrochen. Auf dem Esstisch und auf der Spüle stapelte sich das schmutzige Geschirr. Der saure Gestank von verdorbenem Essen stach mir in die Nase, ich wollte lieber nicht nachsehen, was die ins Spülbecken geworfene Pizza-schachtel enthielt. Kalle hüstelte ein paar Mal und machte schnell das Fenster auf.
    «Hier ist seit einer Ewigkeit niemand gewesen», seufzte er.
    «Ich muss wohl allen Mut zusammennehmen und einen Blick in den Kühlschrank werfen.» Er zog die Tür auf und sprang im gleichen Atemzug beiseite. «Pfui Teufel! Komm bloß nicht nä-
    her!»
    «Was ist denn drin?»
    «Schinken, dem schon Beine wachsen, saure Milch und halb verweste Fleischwurst. Auf der Milch steht der zehnte Zwölfte als Haltbarkeitsdatum. Wollen wir mal sehen, ob das mit den Poststempeln übereinstimmt.»
    «Wäre es nicht besser, solche Untersuchungen der Polizei zu überlassen?» Ich hatte die Lederhandschuhe anbehalten. Es spielte keine Rolle, ob ich auf Heikkis Schuh oder auf einem Druckknopf an seiner Jacke einen Fingerabdruck hinterlassen hatte, solange die Polizei ihn nicht mit einem anderen Abdruck vergleichen konnte. Ich wollte in Heikkis Wohnung auf keinen Fall Spuren hinterlassen, sonst hatte die Polizei einen Grund, mir offiziell Fingerabdrücke abzunehmen, um einen Verdacht auszuschließen. Das Gleiche galt für Fasern und DNA. Warum hatte ich meinen roten Wintermantel angezogen? Wenn ich jetzt Fasern verlor und die gleichen an Heikkis Kleidung gefunden wurden? Es war eine Riesendummheit gewesen, Heikkis Wohnung zu betreten.
    «Entschuldige, der Geruch ist so furchtbar. Ich muss hier raus», sagte ich mit heiserer Stimme und flüchtete mich auf den Hof.
    Ungefähr zehn Minuten musste ich auf Kalle warten. Ich betrachtete die Eiszapfen, die in Dutzenden von kleinen Regenbogen das Sonnenlicht reflektierten. Ein Schwarm Kohlmeisen zupfte die letzten Beeren von den Ebereschen.
    «Geht es dir besser?», fragte Kalle, als er aus dem Haus kam.
    «Im Flur liegen Zeitungen von fast drei Wochen, die älteste ist vom zehnten Dezember. Jetzt bleibt

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