Lehtolainen, Leena
nächsten Kreuzung.
»Ich weiß nicht. Halt mal da vorn bei der Tankstelle, ich muss erst noch telefonieren.«
Es war noch nicht mal zwölf, kein Wunder, dass Milla Marttila mich angiftete.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht so früh anrufen!«
»Warum ziehst du nicht einfach den Stöpsel raus, wenn du nicht gestört werden willst?«
»Das geht dich ’nen Scheißdreck an. Also, was willste?«
»Wo warst du vorgestern Abend zwischen zehn und zwölf?«
»Wieso?«
»Jemand hat versucht, Aira Rosberg zu töten.«
»Aira … Ach du lieber Himmel! Wie …«
»Ein Schlag auf den Kopf. Aber sie ist außer Lebensgefahr.
Also, wo warst du?«
»Ich hab von acht bis vier gearbeitet. Kannste im ›Fanny Hill‹
nachprüfen, die machen um sieben auf. Wenn das alles war, schlaf ich jetzt weiter.«
»Musst du heute Abend arbeiten?«
»Ja«, sagte Milla und knallte den Hörer auf.
Bei Niina Kuusinen hatte ich mehr Glück. Ich erreichte sie in ihrer Wohnung in Suvikumpu, sie sagte, sie wäre den ganzen Tag zu Hause. Also fuhren wir auf der Finnoontie Richtung Süden. An einer Tankstelle pries ein Reklameschild »Riesenpo-lizisten« für zwanzig Finnmark an. Wir stillten den ärgsten Hunger mit einem so passend getauften Hamburger und setzten unsere Fahrt fort.
Die Kuusinens wohnten in einem asymmetrischen Etagenhaus, das der Architekt Reima Pietilä entworfen hatte. Ich fand es seltsam, dass eine Fünfundzwanzigjährige noch bei ihrem Vater wohnte, doch der Vater war bereits pensioniert und verbrachte den Winter größtenteils in Südfrankreich. Niina fragte nicht nach dem Grund unseres Kommens, sie starrte uns nur aus ihren großen, mandelförmigen Augen an und führte uns wortlos ins Wohnzimmer.
Die hohen Fenster ließen normalerweise sicher genug Licht ein, um dem Zimmer ein freundliches Aussehen zu geben, doch jetzt waren die silbergrauen Vorhänge zugezogen. Die gleiche Farbe hatten die zierlichen Rokokomöbel. Obwohl Niina dicke violette Leggings und ein schwarzes Sweatshirt trug, wirkte sie wie eines der kleinen Rokokofigürchen, die die Tische schmückten. Ich hoffte, es würde kein Schneematsch von meinen Schuhen auf den weichen grauen Teppich tropfen.
Auf einem Flügel, auf dem eine weiße Spitzendecke lag, waren Blumen, Kerzen und Bilder arrangiert. Vom größten Foto lächelte eine abgezehrte dunkelhaarige Frau. Daneben standen ein paar Kinderfotos, sicher von Niina. Das kleine Mädchen hatte hellblonde Haare, doch die mandelförmigen Augen waren unverkennbar. Der Mann auf den Fotos musste Niinas Vater sein. Sie sah ihm ähnlicher als ihrer Mutter: Er war groß und schlank wie sie, hatte die gleichen hohen Wangenknochen und die gleiche Augenform.
»Weißt du, warum wir hier sind?«
»Wegen Aira, denke ich.« Man hörte, wie schwer es ihr fiel, die Stimme unter Kontrolle zu halten. »Johanna hat mich gestern angerufen. Ich war gerade im Blumenladen und habe ihr Rosen geschickt … Sie wird doch wieder gesund?«
»Bestimmt. Sie ist schon ein paar Mal kurz zu Bewusstsein gekommen. Was weißt du über das, was Aira passiert ist?«
»Ich? Nur, was Johanna mir erzählt hat. Aira ist überfallen worden, als sie nach Rosberga zurückkam. Vielleicht hatte der Kerl in der Zeitung gelesen, dass Elina tot war, und wollte einbrechen, aber … Ich weiß nicht.« Niina schüttelte den Kopf, sodass ihr die dunklen Haare wieder ins Gesicht fielen, wie ein glänzender Vorhang.
»Wo warst du vorgestern Abend zwischen zehn und zwölf?«
»Ich? Zu Hause … ich habe an astrologischen Karten gearbeitet, für Kunden. Kurz nach Mitternacht bin ich schlafen gegangen. Wieso?«
»Hast du einen Pkw?«
»Vaters Volvo … Aber ich hasse es, im Winter zu fahren«, rief Niina und sah Pihko an, als suche sie bei ihm Unterstützung.
»Ich habe den Führerschein noch in Frankreich gemacht, da gibt es kein Glatteis, so wie hier.«
Sie stand plötzlich auf, ging zur Stereoanlage und legte eine CD auf. Die Klaviermusik, die aus den Lautsprechern rieselte, klang in meinen Ohren fremdartig, schien jedoch auf Niina beruhigend zu wirken.
»Wie geht es dir, Niina?«, fragte ich mit einer Empathie, die nur zum Teil vorgetäuscht war. Auch wenn Tarja Kivimäki behauptet hatte, Niina bausche ihre Problemchen auf, spürte ich, dass es ihr nicht besonders gut ging.
»Mars steht im Moment in Quadratur zu Saturn, das ist un-günstig. Aber da ich das schon vor langer Zeit gesehen habe, konnte ich mich darauf einstellen. Es ist
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