Lehtolainen, Leena
allem stecke, was? Ich bin nicht berühmt wie Joona und diese beschissene Kivimäki und hab keine reichen Eltern wie Niina.«
»Wie ist denn deine Familie? Beim Lehrgang in Rosberga hast du was von Inzest gesagt.«
Milla machte noch einen Zug und drückte die Zigarette dann nachlässig auf dem Bühnenrand aus, sodass der glühende Stummel auf den dunkelroten Teppichboden fiel. Ich trat ihn mit dem Stiefelabsatz aus. Sie betrachtete ihre schwarz lackierten Zehennägel in den roten Sandalen und schwieg.
Was ging mich Millas Vorleben überhaupt an? Nichts, aber ich war neugierig, wie schon auf Johannas Lebensgeschichte. Bei meiner ersten Begegnung mit Milla hatte ich mir eingebildet, sie wolle aus ihrem Leben als Stripperin und offenbar auch Prostitu-ierte ausbrechen. Glaubte ich etwa, ich müsste sie aus einem Beruf reißen, den ich selbst nie ausüben könnte?
»Meine Familie. Ha! Wohnt in Kerava. Die haben Pech gehabt im Leben. Erst konnten sie ewig keine Kinder kriegen. Dann haben sie endlich ’ne Adoptionserlaubnis gekriegt, für mich. Ich war gerade mal zwei Monate da, da hat Ritu, also meine Adoptivmutter, gemerkt, dass sie schwanger war. Und dann ham sie drei eigene Söhne gekriegt. Ritu hat sich fast überschlagen mit ihren drei Schätzchen, sie hat ganz vergessen, dass Ripa, mein Adoptivvater, auch seine Bedürfnisse hat. Aber zum Glück hatte Ripa mich. Ich hab ja mit zehn schon ’nen BH gebraucht, und da hat er gemeint, jetzt wär ich ’ne richtige Frau.«
»Willst du damit sagen, dass er dich seit deinem zehnten Lebensjahr sexuell missbraucht hat?«
»Das ist echt ein verdammt feiner Ausdruck. Sexuell missbraucht, hübsch. Gefickt hat er mich nicht, weil ich doch so einen wundervollen Mund hab und so geschickte Hände. Bei der Abiturfeier hab ich’s endlich gebracht, Ritu und der halben Verwandtschaft zu erzählen, was für einen verdammt lieben Vater ich gehabt hab. Seitdem bin ich nich mehr in Kerava gewesen. Hab keinen Bock drauf.«
In meinem Bauch kämpften Übelkeit und Wut miteinander.
Selber schuld, dass ich mir das anhören musste, warum war ich auch so neugierig. Wie hatte Elina ihre Arbeit als Therapeutin ausgehalten, was hatte sie zu Milla gesagt oder zu Johanna? Ich fand keine Worte mehr.
»Aber die Kacker haben mir weiter Ärger gemacht. Ich war nich schlecht in der Schule, ehrlich, obwohl ich manchmal nich so gut aufpassen konnte, weil Ripa mich die ganze Nacht wach gehalten hat. Ich wollte Literatur studieren und hab gleich beim ersten Anlauf ’nen Studienplatz gekriegt. War ja ganz schön, bloss die Leute, die die Studienbeihilfe vergeben, glauben, man wird von den Eltern unterstützt, wenn man noch keine zwanzig ist. Also hab ich mir mein Geld mit dem verdient, was ich gelernt hatte.«
Millas runde Zehen mit den schwarzen Nägeln sahen aus wie erfrorene Kartoffeln. Sollte ich ihr vorschlagen, ihren Adoptivvater anzuzeigen? Der Missbrauch lag zwar schon einige Zeit zurück, doch verjährt war er noch nicht. Aber wo die Beweise hernehmen? Die Familie war nach außen hin wahrscheinlich ehrbar, sonst hätte sie kein Adoptivkind bekommen.
Adoptivkind … Milla war, wenn ich mich recht erinnerte, fünfundsiebzig geboren, um die Zeit, als Elina mit Kari Hanninen befreundet war. Und wenn … Nein, das war zu phantastisch. Trotzdem konnte ich mir die Frage nicht verkneifen:
»Hast du jemals nachgeforscht, wer deine richtigen Eltern sind?«
»Wozu das denn? Was interessieren mich die denn, die haben mich ja nicht gewollt. Die Kerle hier, die wollen mich. Das reicht mir.«
Ich erinnerte mich an Tarja Kivimäkis spöttische Bemerkung über die streunenden Kätzchen, die Elina um sich gesammelt hatte. Tatsächlich erinnerte Milla an eine ausgesetzte halbwüchsige Katze, die vorsichtshalber die Krallen immer ausgefahren lässt. Aus Millas Sicht war Elina zum ungünstigsten Zeitpunkt gestorben. Ich nahm mir vor, Millas biologische Eltern zu überprüfen. Das heißt, wahrscheinlich stand nur der Name der Mutter in den Unterlagen. Konnte es Elina Rosberg sein? Es klopfte, ich schrak auf. Ein neuer Kunde?
Es war Pertsa, der Milla ungefähr so freundlich ansah wie die Saufbrüder heute früh.
»Unser Fräulein Marttila ist eine begnadete Lügnerin. Sie sind vorgestern Abend erst um halb zwölf zur Arbeit erschienen. Der Liste nach sollten Sie schon um acht anfangen, aber Sie haben mit einer gewissen Tatjana die Schicht getauscht. Also bitte schön, wo waren Sie?«
Der Blick, mit dem
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