Lehtolainen, Leena
bedauerlicherweise meist vorziehen, eher den Unschuldsbeteue-rungen ihrer Männer zu glauben als den Inzestvorwürfen ihrer Kinder.
»Was hat das Mädchen diesmal ausgefressen?«, fragte Ritva Marttila erneut.
»Sie ist in einen ungeklärten Todesfall verwickelt.«
»Hat sie jetzt angefangen zu morden? Das wird ja immer besser! Ein Nachbar hat sie in einer Tittenbar gesehen, er sagt, sie arbeitet da, stimmt das?«
»Warum fragen Sie sie nicht selbst? Ich kann Ihnen die Telefonnummer geben.«
Daraufhin knallte Ritva Marttila den Hörer auf. Da hatte ich also die viel gerühmte Mutterliebe. Eine Freundin, die eine schwere Kindheit gehabt hatte, behauptete, Kinder würden ihre Eltern auf jeden Fall hassen, Eltern, die nicht alles falsch machen, und sei es in bester Absicht, gäbe es nicht. Wie würde das halbfertige Wesen, das in mir schwamm, in zwanzig Jahren über Antti und mich denken? Würde es sich an Eltern erinnern, die so intensiv für ihre Arbeit lebten, dass sie nie Zeit hatten?
Ich rief nun aus dem Personenstandsregister die Angaben über alle Personen ab, die auch nur im Geringsten im Verdacht standen, etwas mit Elinas Tod zu tun zu haben. Theoretisch konnte Milla zum Beispiel Elinas Tochter sein, altersmäßig kam das hin, allerdings kam Joona Kirstilä dann als Vater natürlich nicht infrage. Es gab auch andere Möglichkeiten. Vielleicht drehte sich doch alles ums Geld. Elina war ausgesprochen wohlhabend gewesen, und Aira war ihre einzige Erbin. Hätte nun Aira ein Kind gehabt …
Ich hatte Airas Registereintrag bereits durchgesehen, doch nun rief ich ihn noch einmal ab. Ein Kind war nicht vermerkt, aber Aira hätte, grob geschätzt, zwischen 1945 und 1967 ein Baby bekommen können. In diesem Zeitraum waren fast alle meine Verdächtigen zur Welt gekommen, sogar die beiden Sänttis, die freilich unwahrscheinliche Kandidaten waren, da sie ihr Leben lang in ein und demselben kleinen Dorf gewohnt hatten. Als Niina Kuusinen geboren wurde, war Aira fünfundvierzig gewesen, also konnte auch Niina theoretisch noch ihr Kind sein, doch Niinas Ähnlichkeit mit dem Jugendfoto ihres Vaters war so auffällig, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, sie wäre nicht die leibliche Tochter der Kuusinens. Tarja Kivimäki und Joona Kirstilä waren 1962 geboren, Kari Hanninen 1954, wie Elina. Allesamt im fraglichen Zeitraum.
Hinweise auf eine Adoption gab es bei keiner der Personen, aber in den fünfziger Jahren, vielleicht auch noch Anfang der Sechziger, hatte man dergleichen womöglich inoffiziell regeln können, von solchen Fällen hatte ich schon gehört. Tarja Kivimäkis Eltern waren bei ihrer Geburt bereits über vierzig gewesen. Ich versuchte mir Tarjas und Airas Gesicht nebeneinander vorzustellen. Gab es Ähnlichkeiten? Hatten sich Elina und Tarja so gut verstanden, weil sie Cousinen waren? Galt für Elina und Joona dasselbe?
Oder war die Wahrheit noch komplizierter – war Elina wo-möglich Airas Tochter? Vielleicht hatte ich nur zu viele alte Krimis gelesen. Trotzdem, ich hätte gern gewusst, ob Aira jemals entbunden hatte. Wer war ihr Arzt? Wieder wählte ich die Nummer der Intensivstation. Dort erfuhr ich jedoch, Aira sei auf die Normalstation verlegt worden, weil sie keine Intensiv-pflege mehr benötigte.
Im Prinzip war das eine erfreuliche Nachricht. In der Praxis erhöhte sich damit jedoch die Gefahr: Auf der Intensivstation hatte Aira unter ständiger Beobachtung gestanden, in einem normalen Krankenzimmer war sie dagegen kaum vor unerwünschtem Besuch geschützt. Am besten fragte ich Taskinen, ob wir Aira bewachen lassen konnten.
Taskinen saß an seinem Schreibtisch, den tutenden Telefonhö-
rer in der Hand. Sein Gesicht war verschrumpelt wie eine alte Kartoffel, die Falten um seine Augen waren tiefer als sonst.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte ich vorsichtig.
»Ich habe gerade mit Palos Frau gesprochen. Mit seiner ersten.« Das zaghafte Lächeln, das seine letzten Worte begleitete, war ein Überbleibsel von früher, als wir tagtäglich über Palos drei Ehefrauen und seine zahlreichen Kinder aus verschiedenen Ehen gewitzelt hatten. »Palos älteste Tochter erwartet – oder vielmehr erwartete – ein Kind. Sie war im dritten Monat. Am Wochenende hatte sie eine Fehlgeburt, vermutlich durch den Schock ausgelöst.«
»O verdammt«, sagte ich, etwas Gescheiteres fiel mir nicht ein. Taskinen murmelte:
»Etwas anderes wusste ich auch nicht zu sagen, für solche Situationen gibt es
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