Lehtolainen, Leena
gewesen, wäre ich sicher zur Kirchendecke emporgeschwebt, durch die Betonelemente hindurch ins Freie, wäre über die Kiefernwipfel weit weg geflogen, in die unbekannte Ferne, in die Palo ent-schwunden war. Das Kirchenlied war denkbar unpersönlich. Ich sang laut und eine Spur zu tief, Taskinens Bariton klang weich und schön, Pertsas Brummen erinnerte entfernt an Gesang. Es wäre leichter gewesen, wenn auch die Predigt so pompös gewesen wäre wie das Lied, wenn Palos Bestattungsfeier nur eine prachtvolle, offizielle Zeremonie gewesen wäre, die man unbeteiligt verfolgen konnte, vielleicht sogar mit einem Lächeln über die Aufmerksamkeit, die dem ungewollt zum Helden avancierten Palo zuteil wurde. Doch der Pfarrer sprach mit Verstand und Gefühl, er wandte sich ebenso an Palo wie an seine Angehörigen und an uns Kollegen.
»Juhani Palo wurde zum Opfer, weil er pflichtbewusst seine Arbeit tat. Das erscheint uns allen unbegreiflich, ja ungerecht.
Und doch hat sicher jeder Kollege von Juhani Palo schuldbe-wusste Dankbarkeit verspürt, weil er selbst nicht der Gewalt zum Opfer gefallen ist. Und warum sollten wir nicht so denken, warum sollten wir nicht dankbar dafür sein, dass wir noch leben.«
Dem Mann von der Provinzialpolizei, der vor mir saß, quoll der Nacken über den Mantelkragen, seine Haare waren schief geschnitten. Ich gab mir Mühe, die Worte des Pfarrers nicht an mich heranzulassen, denn ich konnte die Tränen kaum noch zurückhalten, eine war mir bereits auf die Nasenspitze gerollt.
Natürlich konnte mir niemand das Weinen verbieten, auf Beerdigungen darf man ungeniert heulen, das gehört dazu.
Taskinen zog ein Taschentuch hervor, und ich fürchtete schon, er würde es mir reichen, aber er schneuzte sich die Nase. Keiner von uns mochte die anderen ansehen, es war, als schämte sich jeder für seine Trauer und für die Angst, als Nächster im Sarg zu liegen, wo die durch Räuspern kaschierten Schluchzer der Kollegen nicht mehr zu hören waren. Die Kranzniederlegung dauerte lange, viele wollten Palo die letzte Ehre erweisen. Die sechs Kinder, Palos Exfrauen, die jeweils mit ihren eigenen Kindern an den Sarg traten. Ein kaum erwachsenes, verzweifelt schluchzendes Mädchen, offenbar Palos älteste Tochter, die nach dem Tod des Vaters ihr Baby verloren hatte. Schwestern und Brüder mit ihren Familien, Palos Volleyballmannschaft. Der Polizeipräsident, von einem Adjutanten begleitet, legte den offiziellen Kranz der Polizeibehörde von Espoo nieder, seine Gedenkworte hätten auf ein Staatsbegräbnis gepasst. Ich hatte mich zu drücken versucht, als die Abordnung unserer Abteilung gewählt wurde, doch die anderen hatten darauf bestanden, dass ich mit Taskinen und Pihko vortrat. Den letzten Gruß, den Taskinen verlas, hörte ich nicht einmal, so sehr konzentrierte ich mich darauf, meine Gesichtszüge halbwegs unter Kontrolle zu halten. Als wir vom Sarg zurücktraten, nickten wir Palos weinenden Angehörigen zu, und mir wurde bewusst, dass ich mich vor ihnen schuldig fühlte. Von den vielen Kranzniederle-gungen abgesehen, war Palos Begräbnisfeier schlicht und schmucklos. Ich wusste nicht einmal, ob Palo überhaupt an Gott geglaubt hatte, über solche Dinge hatten wir nie gesprochen. Die anschließende Gedenkfeier fand in einem Hotelrestaurant neben der Kirche statt, in dem die Trauergesellschaft kaum Platz fand.
Taskinen war nervös, weil er gleich eine Rede halten musste.
Pihko, Puupponen und ein paar andere verzogen sich in die Bar zu einem Bier. Sie forderten mich auf mitzukommen, doch ich behauptete, keinen Durst zu haben. Pertsa und ich fanden uns an einem Eckfenster wieder, wir starrten wortlos auf das zugefrorene Wasserbecken im Hof.
»Wer von denen sind eigentlich Palos Kinder?«, fragte ich schließlich und deutete auf einen Tisch in der Mitte des Saals, an dem mindestens eine von Palos Frauen saß, umringt von jungen Leuten in Trauerkleidung. Das Schweigen war zu bedrückend, es schuf eine seltsame Bindung zwischen uns.
Wenn es mir gelang, Pertsa zum Reden zu bringen, würde er früher oder später eine seiner idiotischen Bemerkungen machen, die das merkwürdige Zusammengehörigkeitsgefühl zerstörte.
»Warte mal … Die Kleinen da sind aus seiner letzten Ehe.
Und die junge Frau da drüben, um die zwanzig, ist Palos älteste Tochter, der mit dem Bart muss wohl ihr Mann sein. Ach du dicke Tinte, auch das noch!«
Die letzten Worte bezogen sich auf unseren Chef, der sich in die Mitte des Raums
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