Lehtolainen, Leena
wie ich hierher geraten bin, daran erinnere ich mich immer noch nicht genau.«
»Du weißt nicht, wer dich niedergeschlagen hat?«
»Nein. Aber es geht mir besser, ich bin bereit, deine Fragen zu beantworten. Der Arzt hat es auch erlaubt.«
»Heute noch?« Ich wusste nicht, wie lange der Gottesdienst und die anschließende Gedenkfeier dauern würden, aber mit mehreren Stunden musste man wohl rechnen. »Ich komme gegen Abend, wenn es sich irgendwie einrichten lässt.« Pertsa steckte den Kopf zur Tür herein und rief, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, dass ich telefonierte:
»Warum können Frauen nie pünktlich sein?«
Ich schnitt ihm eine Grimasse und verabschiedete mich rasch von Aira. Zu spät kommen wollte ich natürlich auch nicht. Die Beerdigung begann um zwölf Uhr, gleichzeitig sollte in allen Polizeidienststellen des Landes eine Schweigeminute für den verstorbenen Kollegen eingelegt werden.
In der Tiefgarage zwängte sich gerade der Polizeipräsident in sein Auto. Ich musste an Pertsas Andeutung denken, der Chef sei Stammkunde im »Fanny Hill«. Das war natürlich kein Verbrechen, es war nicht einmal ungewöhnlich, im Gegenteil: Viele einflussreiche Männer fühlten sich in solchen Lokalen wohl. Allerdings gab es Gerüchte, der Chef besitze Anteile an einer Firma, die in mehreren Städten Sexbars betrieb, doch bisher war noch niemand der Sache nachgegangen. Wäre Palo außerhalb des Dienstes gestorben, zum Beispiel an einem Herzinfarkt, hätte sich der Präsident bei der Beerdigung sicher nicht blicken lassen. Unter den gegebenen Umständen würde sich jedoch ein großer Teil der Polizeiführung und sicher auch der eine oder andere Journalist einfinden. Es herrschte wieder trostloses Matschwetter, der Neuschnee, der die Umgebung in den letzten Tagen aufgehellt hatte, lag als traurige graue Masse am Wegrand. Meine Schuhe waren feucht, denn ich war vor der Schwangerenberatungsstelle in eine von dünnem Eis überzogene Pfütze getreten.
In den frühen Morgenstunden war ich wach geworden, nach wirren Träumen, in denen zwischen meinen Beinen Blut floss und Halttunens Augen unter einer Eisschicht hervorstarrten.
Danach hatte ich mich schlaflos im Bett gewälzt, Anttis Duft eingeatmet und auf Einstein gelauscht, der irgendwo im Haus herumsprang, offenbar auf der Jagd nach Maulwürfen, die unter dem Fußboden überwinterten. Ich war nervös gewesen, sowohl wegen Palos Beerdigung als auch wegen meines ersten Termins in der Schwangerenberatungsstelle. Von meinen Freundinnen hatte ich Schauergeschichten über sauertöpfische, ältliche Fürsorgerinnen gehört, doch in der Beratungsstelle saß ich dann einer munteren jungen Frau gegenüber, die Schwangerschaften als natürlichste Sache der Welt betrachtete und mir keine Predigten hielt, weder über meinen Beruf noch über meine Bemerkung, ich würde sicher gelegentlich ein Glas Wein trinken. Die Laborwerte waren normal. Alles in Ordnung also, und doch war es ein unwirkliches Gefühl, die blauweiße Faltkarte in der Hand zu halten, auf der in den nächsten Monaten die veränderlichen Koordinaten meines Körpers eingetragen werden sollten.
Pertsa, der wie selbstverständlich auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte, stellte das Radio an und drehte den Knopf, überging Radio Finnland und den Klassiksender. Auf dem nächsten Kanal kam »Stairway to Heaven«; diesen Song gerade jetzt zu hören, war irgendwie abgeschmackt, aber auch rührend.
Der Parkplatz vor der Kirche war überfüllt, Pertsa setzte unseren Wagen halb in eine Schneewehe. Ich hatte die Kirche von Tapiola immer als düsteren Bunker der Teufelsabwehr empfunden, aber jetzt fiel Kerzenschein auf die kahlen Betonwände, und die Menschenmenge, die sich in der Kirche versammelt hatte, strahlte Wärme aus. Die Mitarbeiter unseres Dezernats saßen in einer der vorderen Bänke. Ich zwängte mich zwischen Taskinen und Pertsa und musterte neugierig Palos Angehörige, die auf der anderen Seite des Ganges in den ersten Reihen saßen. Welche der Frauen waren Palos Ehefrauen? Sein jüngstes Kind ging noch nicht zur Schule, das war sicher das kleine Mädchen in der ersten Reihe, das offensichtlich nur zu gern nachgeschaut hätte, ob der Papa wirklich in dem Sarg vor dem Altar lag. Der Organist stimmte einen Choral aus der Matthäus-passion von Bach an. Ich betrachtete meine Hände und wünschte mir, mich nicht so leer und losgelöst zu fühlen. Wäre ich nicht zwischen zwei großen Männern eingeklemmt
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