Lehtolainen, Leena
gut. Deshalb hatte ich es für richtig gehalten, wieder mit der Therapie anzufangen. Es war überraschend leicht gegangen: Offenbar war die Geschichte meiner Bulimie im Computer der studentischen Poliklinik gespeichert, jedenfalls hatte ich sofort einen Termin bekommen.
Eigentlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich irgendeinem noch Verrückteren den Therapieplatz wegnahm, doch Viivi, der ich davon erzählte, meinte, ich sei labil genug.
»Du stehst es durch, egal, wie schlecht die Prüfung ausfällt«, betete ich mir nun vor. Das Gleiche hatte ich mir bei der Magisterarbeit gesagt: Auch wenn ich keine hervorragende Note bekommen sollte, hatte ich die Arbeit immerhin zu Ende gebracht. Nun lag sie bei den Gutachtern. Ich war gespannt, ob sie noch in diesem Frühjahr angenommen wurde oder ob ich mein Diplom erst im Herbst bekam.
Bisher hatte ich mir vorgestellt, nur allein musizieren zu können. In meinen Phantasien gab es immer nur meine Stimme und meine Gitarre. Wenn eine Band im Hintergrund spielte, war es lediglich eine anonyme Gruppe, die von Auftritt zu Auftritt und von einer Platte zur anderen wechselte. Ich konnte kaum fassen, dass ich jetzt gemeinsam mit anderen meine eigenen und fremde Songs spielte und dass es mir Spaß machte.
Riitta, meine Gesangslehrerin, holte mich herein, als die Jury fertig war.
»Vier minus«, flüsterte sie und legte mir kurz eine Hand auf die Schulter. »Wenn du am Anfang nicht so nervös gewesen wärst … Bei Bach war schon zu spüren, dass du weißt, was du singst, und das Strauss-Lied war einfach glänzend. Aber was war denn in der letzten Strophe von Merikanto los?«
Die Jury kritisierte die Punkte, bei denen ich Kritik erwartet hatte, und lobte überraschende Einzelheiten wie meine italieni-sche Aussprache. Der zur Verstärkung hinzugezogene Gesangslehrer eines anderen Instituts empfahl mir die Alexander-Technik gegen die Nervosität, der zweite Gesangslehrer unserer eigenen Schule bemerkte, vor allem bei den tiefen Tönen sei meine Stimmbildung zeitweise eher für Unterhaltungsmusik geeignet. Der Gitarrenlehrer sagte gar nichts, sondern konzentrierte sich darauf, mir auf den Busen zu starren.
Riitta hätte gern ein Bier mit mir getrunken, aber sie hatte noch einen weiteren Prüfling. Wir verabredeten, nach meiner letzten Gesangsstunde essen zu gehen. Ob ich mich nach den Semesterferien wieder an der Musikschule blicken lassen würde, wusste ich noch nicht.
Auch Viivi konnte nicht mitkommen, weil ihre Tochter krank war. Ich überlegte, ob ich Kaitsu in die Kneipe mitnehmen oder lieber Pekka anrufen sollte. Beides war nicht ganz unproblematisch. Kaitsu war nicht mehr ganz so mürrisch, seit er die Hüften und Beine wieder ein wenig bewegen konnte. Die Ärzte hielten es sogar für wahrscheinlich, dass er eines Tages wieder gehen konnte, wenn auch vermutlich an Krücken. Ich wusste trotzdem nicht recht, ob er mit mir kommen würde, denn er hasste mitleidige Blicke.
Pekka war aus anderen Gründen ein Risiko, vor dem ich zurückschreckte. Also beschloss ich, am Ufer entlang nach Hause zu gehen. Der Weg war mir im Lauf des Winters vertraut geworden. Nur an wenigen Stellen lag noch Schnee, oder vielmehr eine von Hundehaufen und Sand gesprenkelte graue Masse. Das vom Eis befreite Wasser plätscherte, das trockene Laub vom letzten Herbst machte seine eigene, müde Raschel-musik. Hundegebell kam näher und entfernte sich wieder, die Tonskala reichte von hellem Kläffen bis zu tiefem Knurren.
Belustigt dachte ich an Ulla. Veikko hatte eine ganz andere Stimme, wenn er von seinem Hund sprach.
Während ich weiterging, ließ ich alle möglichen Songs über das Erwachsenwerden an mir vorbeiziehen. In den meisten wurde Erwachsensein als etwas Erschreckendes, Lähmendes dargestellt, als das Ende aller Träume, als freudlose Zeit. War Kode immer noch derselben Meinung wie damals, als er das Lied »Nie einen Corolla« geschrieben hatte? Darin hieß es:
»’nen blauen Corolla schaff ich mir nicht an, niemals, und Gin trink ich nie in Maßen aus dem Glas, ich werd nicht erwachsen, verknöchert und alt, ich bleibe ewig jung.« Ich nahm mir vor, ihn bei der nächsten Probe danach zu fragen. Hoffentlich glaubte er nicht, ich wollte ihn verarschen.
Wir alle sollten heutzutage ja ewig jung bleiben, das Single-spiel treiben, bis wir dreißig waren, und es wieder aufnehmen, sobald die Kinder aus dem Gröbsten heraus waren. Keiner lachte mehr über Vierzigjährige, die wie Teenager
Weitere Kostenlose Bücher