Lehtolainen, Leena
gekotzt. Oft brauche ich mir nicht einmal den Finger in den Hals zu stecken, vor allem, wenn ich einen Kater habe.
Bei meinem Umzug habe ich mir vorgenommen, in der neuen Wohnung nie zu kotzen. Bisher hat es auch geklappt. Ich habe keine Bulimieanfälle gehabt, und den Hangover halte ich mit Tabletten gegen Seekrankheit unter Kontrolle. Den Trick hat mir Sara verraten. Manchmal sehne ich mich richtig nach dem Gefühl der Leere, das sich nach dem Erbrechen einstellt, ein Gefühl, als schwebten die Füße einen halben Meter über dem Boden und man selbst wäre aus handgeschöpftem Papier, porös und durchlässig. Ich mag es, ganz leer zu sein.
»Ich weiß nicht, ob ich durchhalten kann, manchmal ist mein Herz schwer und schwarz, dann wieder so leer, als wäre ich tot.
Die Routine hilft: früh aufstehen, Frühstücksbrei, Arbeit und Hofgang. Ich bin dicker geworden, denn so viel wie hier habe ich nicht mehr gegessen, seit ich von zu Hause weggezogen bin.
Aber dein Karelischer Fleischtopf ist immer noch das Beste, was es gibt, den vermisse ich«, hatte Rane nach zwei Monaten Haft an seine Mutter geschrieben. Der schlanke Junge auf dem Foto sah mich mürrisch an. Ich hatte das Bild vor einigen Tagen an die Wand gehängt. Eigentlich brauchte ich es nicht, um mich an Rane zu erinnern, es genügte, wenn ich das Gefängnis sah.
Jetzt habe ich die Briefe schon fast drei Wochen und kann sie fast auswendig. Aus einigen habe ich versucht, ein Lied zu machen, aber die Worte wollen sich nicht fügen. Es kommt mir verrückt vor, zehn Sätze zu verwenden, wenn man dasselbe mit einem Übergang von a-Moll sieben zu C-Dur und weiter zum offenen C-Akkord viel besser ausdrücken kann. Das ist Ranes Melodie. Wenn ich richtig orchestrieren könnte, würde ich ein Englischhorn mit den Grundtönen über die Streicher legen. Aber vielleicht kommen Ranes Lieder ja noch. Er hat auch Gitarre gespielt, eine alte Landola, die Sara vor ein paar Jahren mitgenommen hat. Ob sie mir die wohl leihen würde?
Die Gesangsstunden sind in den letzten Wochen überraschend gut gelaufen, obwohl ich im Sommer kaum geübt habe. Nur die erste Stunde war furchtbar. Ich war wahnsinnig aufgeregt, dabei bin ich schon seit neun Jahren Riittas Schülerin. In der Nacht davor hatte ich wieder den Albtraum, der mich schon seit Jahren überfällt. Ich stehe im Opernhaus hinter der Bühne und spüre die brodelnde Erwartung, die von den Zuschauerrängen aufsteigt.
Die Oper hat bereits angefangen, die Hälfte der Solisten und der Chor stehen auf der Bühne, ich sehe das konzentrierte Gesicht des Dirigenten und die Hinterköpfe der Streicher. Gleich muss ich auf die Bühne, doch ich kann meine Rolle nicht. Es ist die Caroline Stutenhaar aus Sallinens Oper »Der König geht nach Frankreich«. Ich erinnere mich, dass ich an irgendeiner Stelle verrückt werden und durch einen Spiegel laufen muss, aber mehr weiß ich nicht. Ich stehe in den Kulissen und sterbe fast vor Angst, und im Traum begreife ich, dass ich schon oft in dieser Situation war, jedes Mal mit der gleichen Verzweiflung.
Dann schiebt mich jemand auf die Bühne, und ich sehe die wartenden, fordernden Blicke der Zuschauer. An dieser Stelle wache ich meistens auf.
Die Oper »Der König geht nach Frankreich« habe ich im Sommer meiner Konfirmation in Savonlinna gesehen. Veikko hatte irgendwo zwei Karten aufgetrieben. Eigentlich wollte Sara mit ihm hinfahren, aber dann kam ihr etwas dazwischen. Mutter konnte nicht, und Kaitsu wollte auf keinen Fall in eine Oper.
Auf der Zugfahrt von Helsinki regnete es pausenlos, aber in Savonlinna wohnten wir in einem feinen Hotel, und Veikko führte mich zum Essen auf die Dachterrasse. Ich war nie in einer Oper gewesen, wusste aber, dass man bei den Festspielen oft Prominente zu Gesicht bekam. Natürlich zeigte ich meine Neugier nicht offen, doch unter den Ponyfransen ließ ich meine Augen eifrig umherschweifen. Im Herbst des Vorjahrs war Veikkos erster Roman erschienen. Einige Leute sahen ihn prüfend an und schienen zu überlegen, woher sie diesen breit-schultrigen, dunkelhaarigen Mann kannten. Ich entdeckte einige Schauspieler, was gar nicht so aufregend war, wie ich erwartet hatte. Im Burghof, wo die Aufführung stattfand, ließ der Wind das Regendach flattern, und das Trommeln des Regens mischte sich unter Sallinens Musik, die mich in ihren Bann zog und tief rührte. Als Caroline Stutenhaar durch den Spiegel trat, weinte ich. Auch Veikko biss sich auf die Lippen. Ich war
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