Lehtolainen, Leena
Ich habe das Gefühl, dass es jemand anders war. Aber wer? Hatten wir in der Nacht Besuch?«
Diese Zeilen stammen aus Ranes letztem Brief. Er war zwei-undzwanzig, als er im Gefängnis starb, sieben Jahre jünger als ich jetzt. Zwischen den Zeilen ist deutlich zu erkennen, dass er die ganze Zeit Angst hatte, auch wenn er sich seiner Mutter gegenüber tapfer gab. Was mag Großmutter empfunden haben, als sie die Briefe las?
Ich schaue hinaus aufs Meer. Die Bäume sind noch dicht belaubt, zum Teil verdecken sie das Licht aus den Gefängnis-fenstern, aber ein Teil fällt mir direkt in die Augen. Ich bin tagelang um die Haftanstalt herumgelaufen und habe versucht, hineinzusehen. Die Freunde, die mir beim Umzug halfen, frotzelten, von meiner neuen Wohnung aus könnte ich den Knackis Geheimbotschaften übermitteln und sie mit einem Striptease erfreuen. Alle lachten, ich auch, aber ich nahm mir vor, so bald wie möglich ordentliche Jalousien anzuschaffen.
Die habe ich inzwischen, sodass ich mir die Aussicht nur dann zu Gemüte zu führen brauche, wenn ich es will. Ich kann nichts dazu, dass meine Idylle einen Riss bekommen hat: Jedes Mal, wenn mein Blick auf das Gefängnis fällt, sehe ich Rane vor mir, wie er verzweifelt aus dem Fenster schaut, unmittelbar bevor er sich mit einem Laken an der Duschstange erhängt.
Das Gespräch mit Veikko hat nichts gebracht. Allerdings habe ich an seiner Stimme gemerkt, dass er wütend war, weil ich von Großvaters Tod gesprochen habe. Hatte Rane eine ähnliche Stimme wie Großvater? Ich versuche, mich zu erinnern, höre aber nur ein undeutliches Rauschen, wie auf einer Langspielplat-te vor dem ersten Stück. Großvaters Stimme habe ich noch ungefähr im Ohr, sie hatte eine ähnliche Melodie wie Veikkos und Saras. An Vaters Sprechstimme kann ich mich nicht erinnern, nur an seine Singstimme. »Jeden Abend, wenn die Lampe erlischt«, dunkel und weich, aber mit einem leisen Lachen im Hintergrund, als hätte ihn die zärtliche Stimmung des Liedes amüsiert. Vater hat Gitarre gespielt, in einer Band, die durch die Lokale tingelte und 1976 ein Engagement auf einer der Fähren nach Schweden bekam. Der Vater von Pekka Kalmanlehto, einem Nachbarjungen, war mit demselben Schiff auf Dienstreise gewesen und erzählte, alle anderen Musiker seien nach Finnland zurückgekommen, nur mein Vater habe seine Gitarre genommen und sei nach Südschweden weitergefahren. Irgendwann kamen wohl auch Alimente, und Kaitsu bekam zum vierten Geburtstag eine Karte, die Mutter verbrannt hat. Mein Vater hat angeblich auch viel getrunken, das hat mir Sara jedenfalls erzählt. Irgendwann um die Zeit meiner Konfirmation habe ich Mutter gefragt, wie mein Vater war. Sie machte ein Gesicht, als wollte sie mich anschreien, doch dann sagte sie bloß mit gepresster Stimme:
»Sei so lieb und sprich nie mehr von diesem Mann.«
Das tat ich auch nicht mehr. Allerdings meinte die Therapeutin, zu der ich in meiner schlimmsten Bulimiephase gehen musste, ich hätte doch von ihm sprechen sollen. Es war schließ-
lich meine Bulimie, nicht Mutters. Anorexie wäre billiger gekommen. Zuerst hat Karri mein ganzes Geld verprasst, und dann habe ich es selber verfressen und versoffen. Einmal habe ich Großmutter angelogen, ich bräuchte neue Schuhe für ein Konzert in der Musikschule, und sie hat mir dreihundert Mark geliehen. In Wahrheit habe ich mir davon die neueste Platte der Band Salamasota gekauft und den Rest auf einer Fachschaftsparty ausgegeben. Als ich Großmutter später das Geld zurückzahlen wollte, winkte sie ab.
Über manches, was ich mir geleistet habe, schäme ich mich, muss aber auch darüber lachen. Zum Beispiel die Geschichte vor zwei Jahren, als ich noch in der Siilitie wohnte: Das Wochenende stand ins Haus, und ich hatte kaum noch Geld, mein Gehalt sollte erst in der nächsten Woche kommen. Im Schrank standen Haferflocken, Kaffee und Eier, damit würde ich auskommen, bis Kaitsu mich am Sonntag abholte. Mutter hatte uns zu sich nach Matinkylä zum Essen eingeladen. Aber ich brauchte Schnaps. Zuerst sammelte ich die leeren Flaschen ein, die sich in den Ecken häuften. Es waren beschämend viele: von Korn, Bier und Longdrinks, teurem Weißwein, den Viivi mitgebracht hatte, Mineralwasser und Diätcola. Das Pfandgeld brachte insgesamt dreiundvierzig Finnmark und fünfzig Penni.
Jallu, der Schnaps, den ich wollte, kostete zweiundachtzig Mark, also fehlten mir nicht einmal vierzig. Völlig blank war ich noch nicht, in meiner
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