Lehtolainen, Leena
Ruderspinning, sie meint, das sei die effektivste Methode, Schwangerschaftskilos loszuwerden. Ich fühle mich diesen energischen Herbstmenschen zugehörig, weil ich ein neues Projekt verfolge: Ich will herausfinden, wer Großvater wirklich ermordet hat. Im Computer habe ich dafür einen neuen Ordner und für jeden, der am Tatort war, ein neues Dokument angelegt. Man muss systematisch arbeiten, das wurde uns auch im Magisterseminar eingebläut. Zuerst einen klaren Arbeitsplan aufstellen und ihn dann verwirklichen.
Soweit ich weiß, sind Protokolle von Gerichtsverhandlungen öffentliche Dokumente. Ich muss nur noch herausfinden, wo man sie einsehen kann. Die erwachsenen Familienmitglieder haben sicher im Prozess aussagen müssen, vielleicht auch Sara, obwohl sie damals noch nicht volljährig war. Wer von ihnen hat einen Meineid geschworen?
Bei Tageslicht sieht Ranes Gesicht unfreundlich aus, aber wenn ich Kerzen anzünde, flackern Licht und Schatten so über das Bild, dass ich in seinen Augen eine Bitte erkenne. Als ob er mich anfleht, die Wahrheit aufzudecken.
In seinen Briefen aus der Armee beklagt er sich unaufhörlich.
Die sinnlose militaristische Hierarchie hat ihm offensichtlich nicht gepasst. Auch ich komme in einem Brief vor:
»Es stimmt, was Sirkka dir erzählt hat, nach dem letzten Urlaub konnte ich mich kaum dazu überwinden, wieder zur Kaserne zu fahren. Gut, dass du nicht dabei warst, Mutter. Als ich den Mantel anzog, kam Katja angetapert und hat gebettelt, ich solle bleiben. Ich habe sie auf den Arm genommen und an mich gedrückt, und da kamen mir plötzlich die Tränen. Das hier ist kein normales Leben, und es wird auch nicht besser durch eure ewige Litanei, ich bräuchte wenigstens nicht in den Krieg.
Die Feldwebel und Unteroffiziere sind Sadisten, einer wie der andere. Viel lieber würde ich mit der kleinen Katja Puzzle legen.«
Rane war mein Patenonkel gewesen. Natürlich besaß ich sein Taufgeschenk noch, einen Silberlöffel mit Gravur: Katja Elina, 24.2.1972, 20.22 Uhr, 3800 g, 53 cm. Für ein Mädchen war ich ein ziemlich großes Baby gewesen. Von Mutters Geschwistern war Rane der Einzige, der bei meiner Geburt schon konfirmiert war und als Pate in Frage kam. Woher hatte er als Siebzehnjähriger das Geld für einen Silberlöffel gehabt?
Von meiner Taufe hatte ich nur ein einziges Foto. Darauf liege ich schreiend und mit knallrotem Kopf in Mutters Armen. Die Farbfototechnik war in den 1970er Jahren noch nicht besonders weit entwickelt, daher sieht mein Taufkleid aus wie die Haut eines Ferkels. Mein Vater und Rane waren bei der Taufe bestimmt dabei gewesen.
Ich rief Kaitsu an.
»Was für Taufbilder hast du? Sind Vater und Veikko drauf?
Veikko hat dich doch über das Taufbecken gehalten.«
Kaitsu schwieg lange, wie gewöhnlich.
»Taufbilder? Hab ich nicht. Wahrscheinlich liegen sie bei Mutter. Keine Ahnung, wer da alles drauf ist.«
Als ich in die zweite Klasse ging, wollte ich ein eigenes Foto-album, weil Elisa auch eins hatte. Ihre Mutter hatte die Bilder sauber eingeklebt und in Schönschrift die Namen der Personen, das Datum und den Ort dazugeschrieben. Das Album begann mit einem Hochzeitsfoto von Elisas Eltern, dann kamen Bilder von der Entbindungsklinik, der Taufe und von jedem Geburtstag. Unsere wenigen Fotos lagen in einem alten Schuhkarton, den Mutter im Kleiderschrank aufbewahrte.
Immerhin konnte ich ein paar Fotos aus der Kindertagesstätte in mein Album kleben, und natürlich die Klassenfotos aus der Schule. Da Mutter keine Zeit hatte, mir zu helfen, schrieb ich die Texte in ungelenken Buchstaben selbst. »Ich im Kindergar-ten«. »Ich als Baby«. »Die erste Klasse«. Zu den Klassenfotos schrieb ich die Namen aller Mitschüler, die Liste füllte eine ganze Seite.
»Hast du die Bilder von Großmutters Beerdigung schon entwi-ckeln lassen?«, fragte ich weiter. Kaitsu hatte sich während des Trauergottesdienstes fast ständig hinter seiner Kamera versteckt und so getan, als suche er den richtigen Bildwinkel. Seit seiner Kleinkindzeit hatte ich ihn nicht mehr weinen gesehen. Manchmal hatte ich das Gefühl, überhaupt keine Ahnung zu haben, was im Kopf meines Bruders vorging. Ich wusste nicht, ob er je verliebt gewesen war, wie er reagiert hatte, als er erfuhr, dass er als einer der ersten Mitarbeiter der Internetfirma, bei der er angestellt war, entlassen werden sollte, oder wie ihm seine jetzige Arbeit als Taxifahrer gefiel. Wenn ich ihn gelegentlich fragte, gab er keine
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