Lehtolainen, Leena
aussahen. Lieber hielten wir uns etwas abseits auf dem Rasen, wo man einen ungehinderten Blick auf die Bühne hatte.
Wie unter Zwang fing auch ich allmählich an, im Takt der Musik zu hüpfen, die Augen auf Kode Salama geheftet. Ich hatte seine Interviews im Dutzend gelesen, in der Bibliothek alle möglichen Zeitschriften durchgeblättert und auf Mikrofilmen nach Informationen gesucht. Kode hieß eigentlich Konsta, war vierundzwanzig, also neun Jahre älter als ich, und wollte neben seiner Musikerkarriere Bootsbau studieren. Er hatte bereits als Vierjähriger Klavierunterricht erhalten und spielte inzwischen sechs Instrumente. Eine Freundin wurde zu meiner Freude nicht erwähnt.
Im Park drängten sich an die zwanzigtausend Menschen, aber je länger der Auftritt von Salamasota dauerte, desto weniger achtete ich auf die anderen. Es gab nur noch mich und die Musik, mich und Kode Salamas langbeinige, kräftige Silhouette dort vorn auf der Bühne. Ulri und Elisa waren von mir abgerückt, sie genierten sich für mich, für den entzückten Glanz in meinen Augen, für mein ungezügeltes Hopsen, für den Schweiß, der mir übers Gesicht lief und sich mit Tränen vermischte.
Als die Band nach zwei Zugaben von der Bühne ging, sackte ich auf den Rasen und hatte das Gefühl, nie mehr hochzukom-men. Ich hätte vor Glück sterben mögen. Es fing an zu nieseln, und die nächste Band war uninteressant. Ulri und Elisa zogen mich mit sich unter einen Baum. Im Gedränge stieß ich gegen einen hochaufgeschossenen Jungen, der mich fröhlich grüßte:
»Hallo, Katja!«
Es war Pekka Kalmanlehto. Seine Familie war schon vor Jahren umgezogen, daher ging er nicht mehr in Matinkylä zur Schule, sondern besuchte das Musikgymnasium in Tapiola. Dass er sich noch an mich erinnerte, hatte ich nicht erwartet.
»Du warst ja ganz schön in Fahrt«, sagte er mit breitem Lä-
cheln. »Na ja, Salamasota ist ja auch ’ne gute Band.«
»Die beste!«
»Ist dein Vater eigentlich wieder aus Schweden zurückgekommen?«, fragte er plötzlich.
»Was geht dich das an!«
Ich rannte davon, ohne auf Ulri und Elisa zu warten. Wenn ich an dieses Konzert zurückdenke, überkommt mich jedes Mal ein seltsames Gefühl, als würde ich ein schmuseweiches Kätzchen streicheln, das mich plötzlich mit den Krallen packt und mir in den Finger beißt. Es war der letzte Auftritt der Band gewesen, denn bald darauf ging einer der Musiker zum Studium nach England, einer machte Zivildienst und einer wurde Vater.
Die Begegnung mit Kode Salama in Savonlinna hat mir Jahre später den Anstoß gegeben, meine Magisterarbeit über den Einfluss der Ramones auf die Musik verschiedener finnischer Bands zu schreiben. Die Arbeit liegt schon lange halbfertig in der Schublade, weil mir der Mut fehlt, Kode oder die Mitglieder anderer Bands, wie Ne Luumäet oder Luonteri Surf, zu interviewen. Der Theorieteil ist fertig, aber Theorie allein genügt nicht. Das tut sie in der Musik nie.
Ich schreibe die Tonfolge auf, die das Englischhorn spielen sollte, obwohl ich mir lächerlich vorkomme. Auch diese Melodie kann nicht vollständig ausdrücken, was es bedeutet, unschuldig im Gefängnis zu sitzen. Aber weiß ich es denn?
Vielleicht bilde ich es mir nur ein, und doch spüre ich eine Verbindung zu Rane, als ob sein Geist irgendwo in der Nähe des Ortes schwebe, wo er gestorben ist. Eigentlich glaube ich an so etwas ja nicht. Aber Rane und ich haben immerhin zu einem Viertel die gleichen Gene. Das ist nicht wenig.
Meine Bulimie ließ erst nach, als die Therapeutin mir zu einem Klinikaufenthalt riet. Der Gedanke war mir unerträglich.
Zum Glück kann man einen volljährigen Menschen nicht gegen seinen Willen einweisen. Ich hatte Sara ein paarmal in der Nervenheilanstalt besucht, ein friedlicher Ort, doch überall gab es Wände, Tore und Mauern. Dort wollte ich nicht hin. Also nahm ich den Kampf gegen den Teufelskreis auf, gegen den unaufhörlichen Kreislauf, der sich aus Einkäufen, strategisch verteilt auf mehrere Kioske und Geschäfte, Keksbergen, im Kühlfach gestapelten Eiskrempackungen, ordentlich aufgereih-ten Chipstüten und schließlich dem Würgen über der Kloschüssel zusammensetzte. Ein Jahr lang hatte mir der Versuch, aus diesem Muster auszubrechen, für alles andere die Kraft geraubt.
Leicht fällt es noch immer nicht.
Es ist schon fast Mitte September, und alle fangen etwas Neues an: neue Hobbys, Kurse an der Volkshochschule, Konditionstraining. Viivi macht jetzt
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