Lehtolainen, Leena
Antwort.
Während der halbjährigen Therapie nach meiner Bulimie hatte die Therapeutin versucht, mein Leben in handliche Brocken zu zerlegen, damit ich erkennen konnte, warum ich fraß und kotzte und trank. Schwierig war das nicht: Zuerst war ich von meinem Vater verlassen worden, dann von der großen Liebe meines Lebens. Auch beruflich hing ich ziemlich in der Luft. Der Verlust des Vaters hatte meine weibliche Identität schwer verletzt. All das hatte ich längst selbst begriffen, anhand von Berichten in Frauenillustrierten und populärpsychologischen Büchern aus der Bibliothek. Es war nicht meine Schuld, dass Vater uns verlassen hatte, das hatte ich mir immer wieder vorgebetet.
Ich weiß das alles und werde doch immer wieder rückfällig. Es muss noch einen anderen Grund geben, ein dunkles Geheimnis, unter dessen Last ich mich verformt habe. Es muss mit Großvaters Tod zusammenhängen. Ich bin ja nicht die Einzige, die darunter gelitten hat – bei Sara hat das Ereignis auch Spuren hinterlassen.
Manchmal fühle ich mich Sara sehr nah. Wir können unsere Erinnerungen austauschen, auch wenn sie sich oft darüber wundert, wie falsch ich manche Dinge verstanden habe. Als kleines Mädchen habe ich sie glühend bewundert, ganz besonders gut gefielen mir ihre blonden Engelslocken und ihr Schminkkästchen, das auf einem Spitzendeckchen auf der Kommode in der Bodenkammer stand und in meinen Augen aus echtem Gold war. Sara hatte einen hellblauen Glockenrock mit schmaler Taille, und obwohl er nur knapp unter das Knie reichte, erinnerte er mich an Dornröschens Kleid in Disneys Zeichentrickfilm.
»Du siehst aus wie eine Prinzessin!«, rief ich bewundernd. Es war im Sommer nach Großvaters Tod und Ranes Selbstmord, ein Jahr vor Saras Abitur.
»Eine Prinzessin!«, lachte sie und umarmte mich, und mit ihrem lachenden Gesicht erschien sie mir so schön wie Armi Aavikko, die einzige wahre Miss Finnland. Ich wünschte mir, auszusehen wie Armi Aavikko, mein glattes schwarzes Haar gegen ihre goldenen Locken einzutauschen und meinen kindli-chen Körper in prächtige Abendkleider zu hüllen.
Später wurde ich Armi Aavikko tatsächlich ähnlich, allerdings nicht vom Aussehen her. Wir beide hatten das gleiche Problem.
Nur betrank ich mich selten in der Öffentlichkeit, es war sicherer, meine Gläschen zu Hause zu kippen. Das heißt, von Gläschen konnte keine Rede sein, ich trank direkt aus der Flasche, in gierigen Schlucken, von denen ich im Nu betrunken wurde. Als ich Armi Aavikko ähnlich geworden war, hielt ich Sara nicht mehr für eine Prinzessin. Ich hatte gelernt, mich davor zu fürchten, wie sie bei unserer nächsten Begegnung aussehen würde, ob sie ihren Hippietag oder ihre Ladyphase hatte, manisch oder depressiv oder alles auf einmal war. Nach Armi Aavikko war Kode Salama mein Idol geworden, dann Karri. Nach Karri wollte ich nur noch Alkohol und Essen. Es ist wahnsinnig gefährlich …
FÜNF
Kaitsu
… mit hundertdreißig über eine unbeleuchtete Straße zu fahren, wo alle tausend Meter ein Verkehrsschild vor Elchen warnt. Auf der Straße von Inkoo nach Salo zum Beispiel. Sie war wie eine Rinne, durch die ich rollte. Es gab nichts auf der Welt als mich, den Mercedes und die Straße. Ein Elch war in dieser Welt nicht vorgesehen, aber manchmal prallen Welten aufeinander.
Andererseits – lieber ein Elchunfall und sofort tot, als sich jahrelang quälen und anderen zur Last fallen wie Großmutter.
Wegspritzen wäre eine Gnade gewesen. Rane war schlau genug, sich umzubringen. Wahrscheinlich würde ich das auch tun, wenn ich zehn Jahre Knast vor mir hätte. Ich bin sechsundzwanzig, ich lebe schon vier Jahre länger als mein Onkel.
Katja spinnt mal wieder. Heute Morgen war ich bei ihr, um das Modem an ihrem Computer auszuwechseln, das alte war hinüber. Über der Kommode hing ein Foto von mir. Allerdings erinnerte ich mich nicht, es je gesehen zu haben, auch die braune Hose kam mir fremd vor.
»Wann ist das denn gemacht worden?«, fragte ich. Ich hatte die Haare schon seit ein paar Jahren nicht mehr so lang getragen.
Katja machte ein seltsames Gesicht.
»Was glaubst du, wer das ist?«
»Wieso? Ich natürlich.«
»Nein. Das ist Rane.«
»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte ich und nahm das Bild von der Wand. Tatsächlich, es war Rane. Meine Augen sind heller, und ich habe Aknenarben auf den Backen. Außerdem hatte Rane breitere Schultern.
»Warum hängst du dir das an die Wand?«
»Wusstest du, dass Rane sich
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