Lehtolainen, Leena
denn der Umbruch habe bereits 1977 mit dem Punk und den ersten Platten von Eppu Normaali und Pelle Miljoona begonnen. Der Professor, den das Thema nicht im Geringsten interessierte, hatte erklärt, ich könne das Material eingrenzen, wie ich wolle.
Meine Nervosität legte sich allmählich, ich hatte das Gefühl, mein Thema souverän zu beherrschen. Als ich ans Ende meiner Ausführungen kam, blieben noch zehn Minuten Zeit, also bat ich um Fragen oder Kommentare. Der Lederhosenmann meldete sich sofort:
»Wieso ist Dave Lindholm nicht zur Sprache gekommen?
Seine Band Bluesounds war eine der wichtigsten in der finnischen Rockmusik der achtziger Jahre. Wie ist es möglich, dass er vollständig ignoriert wird?«
Ich merkte, dass ich rot wurde. Den betreffenden Abschnitt hatte ich in aller Eile vorbereitet und war anschließend mit Viivi ausgegangen. Beim Bier war mir eingefallen, dass ich Dave Lindholm und die Bluesounds noch einfügen musste, doch bis zum nächsten Morgen hatte ich es wieder vergessen.
»Du kannst ja Bluesounds statt Kumma Heppu analysieren«, schlug ich rasch vor.
»Nein, ich halte mich an das, was die Kursleiterin mir aufträgt«, sagte der Mann unwirsch.
Da keine weiteren Wortmeldungen kamen, machte ich Schluss. Ich kam mir inkompetent vor, weil ich die Unterrichts-zeit nicht voll ausgefüllt hatte. Wahrscheinlich hatte ich in meiner Nervosität schneller gesprochen als bei der Probe zu Hause. Ich holte meine Sachen aus dem Lehrerzimmer und hoffte, keiner meiner Studentinnen auf der Toilette zu begegnen.
Im Spiegel sah ich, dass meine Wimperntusche zerlaufen war –
auch das noch! Als ich im Hinausgehen mein Handy einschalte-te, fand ich eine Nachricht von Viivi vor: »Wie war’s? Durstig vom Reden?«
Ich hatte Viivi im Chor der Musikschule kennengelernt, in dem alle Gesangsschüler mitwirken mussten. Sie war einige Jahre älter als ich, von Beruf Laborantin, und hatte zwei halbwüchsige Kinder. Nach ihrer Scheidung hatte sie beschlossen, frischen Wind in ihr Leben zu bringen und unter anderem Gesangsstunden zu nehmen. Die Kinder wohnten jeweils im Wechsel zwei Wochen bei ihr und bei ihrem Exmann. Falls Viivi gerade kinderlos war, würde sie sicher mit mir ausgehen.
Ich brauchte jetzt einfach ein paar Drinks. Von meiner ersten Vorlesung war ich völlig überdreht, und die bevorstehende Begegnung mit Kode Salama würde mich ohnehin nicht schlafen lassen. In meinem Leben passierte zu viel auf einmal.
»Ja, ich kann mitkommen, ich habe morgen Spätschicht«, antwortete Viivi. Wir verabredeten uns im Bahnhofsrestaurant, das dank seiner hohen Decke nie besonders verräuchert war, Viivi hasste nämlich Zigarettenqualm. Ich war vor ihr dort, holte mir an der Theke eine Cola mit Schuss und setzte mich an einen Fenstertisch mit Blick auf die hastenden Menschen in der Bahnhofshalle. Ein melodischer Klingelton kündigte eine Durchsage an, alle horchten auf, hörten, dass der Zug nach Turku eine Viertelstunde Verspätung hatte, und eilten weiter.
Mitten im Restaurantsaal stand ein Flügel, auf dem niemand spielte. Ich hätte gern darauf geklimpert, wie immer, wenn ich ein Klavier sah.
Ich war bereits beim zweiten Drink angelangt, als Viivi kam.
Sie war klein und blond und hatte einen hellen, hohen Sopran, der bei Werken von Mozart und Richard Strauss besonders gut zur Geltung kam. Wir hatten einige Duette miteinander geprobt, doch es war mir nicht gelungen, meiner Stimme den warmen Klang zu geben, den ihr Sopran von Natur aus hatte. Da sie nie unter Lampenfieber litt, würde sie auch in diesem Jahr im Weihnachtskonzert der Musikschule singen. Viivi wollte wie ich im Frühjahr den Einserkurs absolvieren, und ich wusste, dass ich dem Vergleich mit ihr nicht standhalten konnte. Sie war eine der wenigen, denen ich von meinen eigenen Liedern erzählt hatte, sie hatte welche hören wollen, aber nicht weiter darauf bestanden, als ich sagte, sie seien noch nicht ganz ausgefeilt.
Als ich mein drittes Glas zur Hälfte geleert hatte, schwärmte ich Viivi von Kode Salama vor wie ein verliebter Teenager, während sie mir von ihrer noch frischen Beziehung zu einem Kollegen erzählte, einem verheirateten Krankenpfleger, mit dem sie ein paarmal geschlafen hatte.
»Die böse Verführerin bin ich deswegen noch lange nicht. Ich habe ihn zu nichts gezwungen, er hat selbst vorgeschlagen, ein Bier trinken zu gehen. Ich bin nicht mit ihm in die Kneipe gegangen, um ihn ins Bett zu kriegen, sondern weil ich mal mit
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