Lehtolainen, Leena
Kaitsu überhaupt sein Sohn sei. Natürlich ist er von Eero. Als ich endlich mit einem anderen Mann geschlafen habe, war ich schon über dreißig.
Fernsehsendungen über wirkliche Ereignisse mag ich nicht.
Die Wirklichkeit ist wie erkalteter Haferbrei, der einen pelzigen Geschmack auf der Zunge hinterlässt. Manche Kolleginnen lesen am liebsten Biografien, Memoiren und Enthüllungsbücher, aber ich ziehe fiktive Geschichten vor. Es ist ein tröstlicher Gedanke, dass der Schriftsteller entscheiden kann, was er seinen Figuren widerfahren lässt, oder dass die Schauspieler sich nach den Dreharbeiten die Schminke abwischen und nach Hause oder zum Angeln gehen. Mette-Marit, Diana und all die anderen aus den Königshäusern gehören zur selben Kategorie wie Romanfi-guren und Serienhelden. Sie sind keine alltäglichen Menschen, denen ich auf der Straße begegnen könnte, und die überraschenden Dinge, die ihnen passieren, klingen wie die Erfindungen eines Drehbuchautors, sie stammen nicht aus dem wahren Leben.
An dem Abend, als der Dokumentarfilm über Sara kam, musste Kaitsu arbeiten. Ich hatte aber auch gar kein Bedürfnis nach Gesellschaft. Um nicht gestört zu werden, stöpselte ich das Telefon aus. Irgendwer in Pielavesi hielt es womöglich für seine Pflicht, mir mitzuteilen, dass meine Schwester im Fernsehen war. Im Schlafanzug und mit warmen Socken an den Füßen saß ich vor dem Gerät, diesmal ohne mein Häkelzeug. Die Ansage-rin, eine ehemalige Schönheitskönigin mit strahlendem Lächeln, nannte nur den Namen des Regisseurs, die Mitwirkenden erwähnte sie nicht.
Während des Vorspanns erschien Saras Gesicht auf dem Bildschirm. Da ich sie seit Wochen nicht mehr gesehen hatte, wusste ich nicht, dass sie mittlerweile blond war und sich lange goldene Zöpfe hatte einflechten lassen. So eine Frisur kostete einen Haufen Geld. Hatten die Dokumentarfilmer ihr den Friseur bezahlt?
Außer Sara waren während des Vorspanns eine Frau mit streichholzkurzen Haaren und ein Mann zu sehen, dem man beide Beine amputiert hatte. Sara trug mit kräftigen Pinselstri-chen grelle Farben auf eine Leinwand auf, Orange, Himmelblau, flammendes Gelb. Dann wurde der Hintergrund schwarz und düster, die Frau mit der Stoppelfrisur begann zu sprechen. Ihre Lebensgeschichte war niederschmetternd. Ihr jüngstes Kind war mit zwei Jahren an Krebs gestorben, einen Monat später waren ihr Mann, ihr ältestes Kind und ihre Schwiegermutter bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, und ein Jahr danach war bei ihr Brustkrebs diagnostiziert worden. Sie hatte die Krankheit besiegt und lebte nun mit ihrem sechsjährigen mittleren Kind und zwei Hunden irgendwo auf dem Land. An dieser Stelle wurde der Hintergrund hell, die Frau spazierte mit dem Kind und den Hunden lachend über ein Feld.
Dann war Sara an der Reihe. Auch sie saß in einem kargen Raum vor schwarzem Hintergrund, das Gesicht sorgfältig geschminkt und ernst.
»Meine Kindheit war die reine Hölle«, sagte sie mit bebender Stimme. Ihre Augen glänzten, als wäre sie den Tränen nahe.
»Mein Vater war Trinker und hat meine ältere Schwester und mich sexuell missbraucht. Meine Schwester streitet alles ab, sie ist noch nicht reif genug, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Das ist eine typische Reaktion. Auch ich war erst als Erwachsene stark genug, mich der Erinnerung zu stellen.«
Sie strich die Zöpfe zurück. »Unter diesen Umständen fiel es mir in der Schule schwer, mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Trotzdem kam ich aufs Gymnasium, denn meine Lehrer hielten mich für begabt. Drei Jahre vor meinem Abitur hat mein Bruder Rane unseren Vater umgebracht.«
Sara schwieg eine Weile und wischte sich über die Augen.
»Mein Bruder wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, doch unmittelbar vor meiner Abiturprüfung nahm er sich das Leben.«
Was redete sie da? Rane hatte im Frühjahr 1978 Selbstmord begangen, fast ein Jahr vor ihrem Examen. »Infolge des Schocks konnte ich mich kaum auf die schriftliche Prüfung konzentrieren, ich musste mich aufs äußerste anstrengen, um das Abitur überhaupt zu schaffen. Rane hat seine Tat nie zugegeben, und mir ist oft der Verdacht gekommen, dass er zu Unrecht verurteilt wurde. Vielleicht läuft der wahre Mörder heute noch frei herum.«
Ich warf das Sofakissen auf den Boden. Das war es also, was Sara und Katja ausgekocht hatten? Meine Schwester erzählte weiter von ihren Depressionen und ihren häufig wechselnden Männerbekanntschaften. »Dann
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