Lehtolainen, Leena
war ich noch nicht fähig, zu erkennen, dass ich als Kind sexuell missbraucht worden war, zu tief hatte sich die Scham in die dunkelsten Winkel meiner Seele hineingefressen.
In der Radikaltherapiegruppe habe ich dann Reetta kennengelernt. Sie war dunkelhaarig und geheimnisvoll, stark und sensibel zugleich. Schon bei unserer ersten Begegnung spürte ich, dass unsere Herzen auf einer Wellenlänge lagen. Natürlich waren Liebesbeziehungen zwischen den Teilnehmerinnen nicht im Sinn der Therapie, doch gegen sein Herz ist der Mensch machtlos.
Meine offene, empfängliche Seele machte mich zur leichten Beute. Reetta überzeugte mich, dass ich von den heterosexuellen Normen durchdrungen sei, die man mir eingeimpft hatte, dass ich aber mit ihr die Lesbe finden könne, die in mir steckte. Mich dürstete nach Liebe, deshalb glaubte ich ihr.
Es war anders als mit Männern, langsamer, zarter und … Ich will nicht mehr daran denken. Das war nicht ich, sondern ein manipulierter Teil von mir. Ich war natürlich nicht wirklich lesbisch, ich wollte es nur einmal ausprobieren. Nachdem ich vier Monate mit Reetta zusammen gewesen war, traf ich Tommi. Da wurde mir klar, dass ich dazu geschaffen war, Männer zu lieben.
Reetta machte mir wüste Vorwürfe, obwohl sie selbst mich verführt hatte. Ich bin selten so übel beschimpft worden. Aber sie war eben ein kalter Mensch. Später habe ich eine Frau aus der Aslan-Bewegung kennengelernt, die mich davon überzeugt hat, dass ich fehlgeleitet worden war. Reetta und ihre Freundinnen waren hässliche Mannweiber in karierten Flanellhemden, Lesben von der Sorte, die Bodybuilding betreiben und Motorrad fahren. In ihrem Kreis war ich der fragile, exotische Engel, um den sie wetteiferten. Reetta hat mit mir geprahlt wie ein älterer Mann mit einem jungen Model.
Ich sprach noch immer nicht gern über diese Zeit, doch um ein heiler Mensch zu werden, muss man sich öffnen und sich seine Fehler eingestehen. Damals war ich so zerbrochen, dass ich nicht wusste, was gut für mich war. Mehr als einmal erwachte ich im falschen Bett. Ich habe nun mal eine ungeheure Sehnsucht nach Zärtlichkeit, und die nimmt manchmal verzerrte Formen an.
»Ich fand Reetta nett«, sagte Katja am Telefon. Wir hatten damals Sirkkas ganze Familie und Veikko zu uns eingeladen, aber Kaitsu war nicht mitgekommen. Später leuchtete mir ein, dass das Selbstbewusstsein eines Jungen im empfindlichsten Alter keine Lesben verkraftet. Veikko war gemein wie immer und sprach mit Reetta über Wanderungen in Lappland, als wollte er mich aus der Unterhaltung ausschließen. Mutter war natürlich schockiert, als ich ihr von meiner Beziehung erzählte, doch ich wollte allen gegenüber aufrichtig sein, denn meine Gefühle und mein wahres Ich habe ich noch nie verbergen können. Als ich Mutter später sagte, alles sei ein Irrtum gewesen, weinte sie vor Erleichterung.
Natürlich fand Katja Reetta nett, denn Reetta lobte ihre Stimme und lud sie ein, auf irgendeiner Lesbenparty zu singen. Zum Glück wurde nichts daraus. Jetzt schien Katja enormes Lampenfieber vor ihrem Auftritt bei der Adventsfeier der Kunstzirkel unserer Volkshochschule zu haben. Ich fragte, ob sie ein Beruhigungsmittel wollte.
»Ich weiß nicht … Nach der Katastrophe bin ich nicht mehr aufgetreten …«
Sirkka hatte mir von dieser Katastrophe erzählt. Katja hatte ein tolles Angebot bekommen. Sie sollte am Abend vor dem Ersten Mai in einem kleinen Restaurant in Helsinki Beatles-Songs und andere Popklassiker singen. Da unaufdringliche Hintergrundmu-sik gewünscht war, hatte man kein Mikrophon bereitgestellt, sodass Katjas Stimme kaum zu hören war. Sie hatte vor ihrem Auftritt zur Entspannung zwei Glas Wein getrunken, und als der Restaurantchef ihr zur Entschädigung für das fehlende Mikrophon weiteren Wein bringen ließ, hatte sie sich so gründlich betrunken, dass sie kaum noch die Saiten traf. Ein Bruder von Sirkkas Kollegin war dort gewesen und hatte später lachend von der schwer angeheiterten Sängerin erzählt. Und Sirkka hatte sich wieder einmal für ihre Kinder schämen müssen.
Für Sirkka muss immer alles ordentlich und glatt sein wie ein frisch gemangeltes Laken. Ich habe damals natürlich versucht, Katja zu helfen, statt leere Predigten zu halten. Ich riet ihr, zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen, doch als sie das hörte, machte sie ein eisiges Gesicht, wie so viele Menschen, die der Wahrheit nicht ins Auge zu sehen wagen.
»Ich bin keine Alkoholikerin«,
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