Leibhaftig
wechseln, du übernimmst das. Auch Schwester Thea zieht dieses natürliche Mittel den ewigen Spritzen vor, das ermutigt uns. Werden die Pausen zwischen den Wickelnnicht allmählich länger? Möglich, daß es mir nur so vorkommt, ich kann mich nicht an die Zeit halten, ich lasse mich gehen, gleite ab, höre aber, was du, indem du schon wieder das kalte Handtuch um meine Waden legst, mir mitteilst: Heute sei doch Siebenschläfer, und es habe kräftig geregnet. Also werde es einen nassen Sommer geben. Man habe schon Schwierigkeiten mit dem Getreide. Zu feucht, alles. Zu wenig Sonne. Und dann immer diese Gewitter, sagt Schwester Thea, die in der Nähe auf einem Dorf wohnt, ja, noch bei ihren Eltern, aber immerhin nicht mehr mit ihrem Bruder in einem Zimmer, der gerade bei der Armee sei. Sie legt ihre Hand auf meine Stirn. Na, sagt sie, jetzt können wir wohl mal. Fieber mißt. Also. Der Mensch wird bescheiden. Nicht gerade glänzend, aber gefallen ist es doch. Einwandfrei.
Kora, die bloß mal vorbeischauen will – dienstlich habe sie ja heute nicht mehr mit ihr zu tun, Gott sei Dank –, findet es auch »passabel«, und sie findet auch, daß man weitermachen soll. Ihr Mann könnte jetzt nach Hause fahren, meint sie, sie wolle ein Weilchen für ihn einspringen. Nein, bei seiner Frau schlafen könne er nicht, da müsse er schon noch ein Weilchen Geduld haben. Kora neckisch, das paßt nicht zu ihr. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Für heute, glaube ich, haben wir es geschafft. Du glaubst ihr nicht, verstellen konntest du dich noch nie. Was bedeutet das, wenn dufreiwillig im Krankenhaus übernachten willst. He, sage ich, keine Fisimatenten. Das ist ein Geheimcode zwischen uns, nein nein, sagst du, aber dein Gesicht erhellt sich nicht.
Als du gegangen bist, als Kora und Schwester Thea aufgehört haben, mir die Wickel zu wechseln, lasse ich mich, um mich abzulenken, dazu verleiten, das Radio anzustellen. Ein paar Takte Musik, die ich hören will, Vivaldi, erfahre ich, aber schon wird zu den Nachrichten übergeleitet, und ich kann den Abstellknopf nicht schnell genug betätigen, weil ich alle diese Hantierungen aus der Rückenlage machen muß, so bin ich gezwungen, mit anzuhören, daß man im Keller eines Berliner Hauses einen toten Säugling aufgefunden hat, ermordet von seinem zwölfjährigen Bruder, wie man feststellen mußte. Die Panik, die in mir aufsteigt. Was fange ich jetzt mit diesem toten Säugling an. Schon schwimmt er, wie ein Fötus im Reagenzglas, untilgbar hinter meiner Netzhaut, es dauert eine Weile, ehe ich das Bild wiedererkenne, da bin ich schon losgelaufen, blindlings, scheint es mir zuerst, untergetaucht wieder in das Adergeflecht in mir, schwimmend, mich treiben lassend, in Strudel hinein, in denen ich mich nicht halten kann, ohne mein Zutun spült es mich wieder auf das Schlachtfeld, das ich kaum wiedererkenne, so sehr hat es sich verändert, zum Bösen hin, muß ich mir eingestehen, Krankes und Gesundes sind nicht mehr zu unterscheiden, mein Versuch,darauf einzuwirken, richtet nichts aus, etwas in mir weiß, was das bedeutet, schon bin ich weiter, andernorts, watend, das Wasser oder was immer es ist – Blut? – bis zu den Knien, an Knotenpunkten immer diejenige Möglichkeit wählend, die mich tiefer hinabführt, ins Dunkle hinein. Das sind die Adern nicht mehr, in tiefere Dunkelheiten stoße ich hinab, immer den Fötus vor Augen, der in seinem Retortenglas leuchtet, Homunkulus?, wachsend übrigens.
Die Treppen habe ich längst hinter mir, jemand muß mir einen Kellerschlüssel gegeben haben, Frau Baluschek? Unwahrscheinlich, sie geizt mit ihren Kellerschlüsseln: Was wollen Sie denn da unten, haben Sie etwa Kohlen da? Außenwandgasheizer, sieht man doch. Na also! So werde ich mich wegen des Schlüssels wohl an die Damen gewendet haben, zwei Cousinen, die ihr Drogerie-Lädchen gleich neben unserer Haustür neuerdings »Boutique« nennen; die sich die Genehmigung zur Veränderung ihres Warenangebots von Seife, Zahnpasta und Toilettenpapier zu Dederontüchern, Kerzenhaltern und Parfümerie in zähen Auseinandersetzungen mit der Kommunalbehörde erkämpft haben; die natürlich einen Lagerraum im Keller haben, mir bereitwillig den Schlüssel geben, diesmal sogar ihr Lädchen zehn, fünfzehn Minuten vor der Zeit abschließen, um mir, ungestört durch andere Kunden, von dem Kollegen von der Post zu berichten, der, ähnlichwie ich, allerdings aus anderen Gründen, in unregelmäßigen
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