Leibniz war kein Butterkeks
unterdurchschnittlich intelligente Frauen überdurchschnittlich viele Kinder bekommen und somit die ganze Gesellschaft in den Abgrund reißen.
»The Bell Curve« wurde von rechtskonservativen Kreisen in Amerika heftig begrüßt, von vielen renommierten Wissenschaftlern jedoch ebenso heftig kritisiert. Der Psychologe Martin Seligman (*1942) etwa bemängelte den von Murray und Herrnstein unterstellten Zusammenhang von IQ und Armut. Im Unterschied zu ihnen führte Seligman die schlechteren Ergebnisse, die Menschen aus ärmeren Schichten in IQ-Tests erzielten, wesentlich auf das Phänomen der »erlernten Hilflosigkeit« zurück. Schlechtere kognitive Leistungen seien, so Seligman, weniger die Ursache von Armut, sondern eher die Folge von Armut und fehlenden Aufstiegschancen.
Der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould (1941–2002) bekräftigte diese Kritik an »The Bell Curve«, indem er auf die wichtige Differenz von »genetischem Determinismus« und »genetischer Potenzialität« hinwies. Gould zufolge bestimmen die Gene nicht unser Leben, sie geben vielmehr den Rahmen vor, innerhalb dessen sich verschiedenste Möglichkeiten realisieren lassen (»genetische Potenzialität«).
Ganz ähnlich ließe sich dies auch in Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse formulieren, in die wir hineingeboren werden. Auch sie legen nicht fest, wie unser Leben verlaufen wird. Denn wir kommen nicht als »unbeschriebenes Blatt« zur Welt, auf das die Umwelt beliebige Einträge vornehmen könnte, wie der berühmte amerikanische Psychologe Burrhus Frederic Skinner (1904–1990) annahm. Vielmehr ist unser Denken und Handeln das Ergebnis einer einzigartigen Wechselwirkung unserer genetischen Anlage und der komplexen Umweltbedingungen, auf die wir treffen.
Wir sind also nicht bloß »Werkzeuge in der Hand stärkerer Kräfte«, wie Eichmann glaubte. Weder »die Gene« noch »die gesellschaftlichen Verhältnisse« noch das »unerfindliche Schicksal« zurren fest, wie unser Leben verlaufen wird. Als eigensinnige Lebewesen , die Wohl und Wehe unterscheiden, haben wir in Bezug auf das, was mit uns geschieht, durchaus ein Wörtchen mitzureden! Karl Marx (1818–1883) schrieb einmal: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken.« Das heißt: Obgleich unser Selbst von unzähligen Faktoren bestimmt ist, können wir selbst über unser Leben bestimmen – vor allem, wenn unser Selbst von der Idee der Selbstbestimmung bestimmt ist.
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Ist es vernünftig, immer vernünftig zu sein?
Wenn ich überlege, was wir bisher über die »Kunst des Lebens« besprochen haben, kommt es mir so vor, als würde da noch etwas ganz Wesentliches fehlen. Ich verstehe schon, dass man seine Potenziale ausschöpfen und seine Ziele hartnäckig verfolgen sollte, aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass diese Empfehlungen viel zu »kopflastig« sind. Wo bleibt denn da das Spontane, das Verrückte? Würden wir nicht ein total langweiliges Leben führen, wenn wir auf jeden Rausch verzichten würden, nur weil wir den anschließenden Brummschädel vermeiden wollen?
Ah, ich ahne, worum es dir geht: Du willst wissen, ob es vernünftig ist, immer vernünftig zu sein, oder?
Ja, das ist eine schöne Formulierung! Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass man wirklich glücklich werden kann, wenn man immer nur mit einem kühl-rationalen Kopf an die Dinge herangeht.
Das sehe ich ähnlich: Es ist ganz bestimmt nicht vernünftig, immer vernünftig zu sein! Wir müssen hin und wieder über die Stränge schlagen, um zu spüren, dass wir am Leben sind. Zwar will ich gar nicht bestreiten, dass es gut ist, sein Leben unter Kontrolle zu haben, aber es zwanghaft kontrollieren zu müssen, das schadet uns mehr, als es uns nutzt. Zur »Kunst des Lebens« gehört auch die Fähigkeit, loslassen zu können , also den kontrollierenden Verstand abzuschalten. Denn ohne eine zeitweise Befreiung von der Vernunft ist echte Hingabe gar nicht möglich. Nicht ohne Grund hat die Menschheit seit jeher Kulturtechniken entwickelt, die darauf abzielen, die rationale Kontrolle zu lockern. Und damit meine ich nicht nur die gesittete Meditation im Sitzen, sondern auch den ekstatischen Rausch infolge von Tanz und Drogenkonsum.
Wie? Du siehst in der Herstellung und im Konsum von Drogen eine »Kulturtechnik«?
Selbstverständlich. Die Idee einer völlig drogenfreien Welt ist doch nur ein Wunschtraum magenkranker Kostverächter! Ich wüsste wirklich
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