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Leibniz war kein Butterkeks

Titel: Leibniz war kein Butterkeks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lea; Schmidt-Salomon Salomon
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! Zu dem Schluss, dass sich sein Leben nicht mehr zu leben lohne, kam Enke ja nicht aus freien Stücken, sondern unter dem Eindruck einer tiefen Depression. Wäre diese Erkrankung angemessen therapiert worden, hätte er eine andere, eine vernünftigere Wahl getroffen, was nicht nur ihm selber, sondern auch seiner Familie, seinen Freunden, nicht zuletzt wohl auch dem Zugführer großes Leid erspart hätte.
    Immerhin war Enkes Suizid der Anlass dafür, dass das Thema »Depression« sehr breit in der Öffentlichkeit behandelt wurde. Vielleicht hat seine Verzweiflungstat in dieser Hinsicht ja doch noch etwas Positives bewirkt.
    Das wäre zumindest zu hoffen! In der Tat wurde in den Wochen nach Enkes Tod erstaunlich offen über Depression und Suizid gesprochen. Möglicherweise ist dadurch vielen Menschen klarer geworden, dass sie sich nicht schuldig fühlen müssen, wenn sie eine Depression entwickeln. Biologisch betrachtet ist Depression ja eine Stoffwechselstörung im Gehirn – und insofern durchaus vergleichbar mit Diabetes, der Stoffwechselstörung in der Bauchspeicheldrüse. So wenig, wie man sich schuldig fühlen muss, zuckerkrank zu sein, sollte man sich schuldig fühlen, depressiv zu sein.
    Und man sollte wohl auch nicht ausgerechnet in einer depressiven Phase über den Sinn und Unsinn des Lebens nachdenken …
    Nein, bevor man das tut und womöglich schicksalhafte Entscheidungen trifft, sollte man unbedingt einen kompetenten Arzt aufsuchen! Antidepressiva und Psychotherapie haben schon vielen geholfen, jene Sonnenseiten des Lebens wiederzuentdecken, die sie zuvor aus dem Blick verloren hatten.
    Weißt du, was mich an der Reaktion auf Enkes Tod erstaunt hat? Kaum jemand hat ihn moralisch verurteilt! Wenn man bedenkt, wie die Kirche früher mit »Selbstmördern« umgegangen ist, ist das doch ziemlich bemerkenswert, findest du nicht?
    Ja. Das zeigt, wie sehr sich die Gesellschaft mittlerweile von traditionellen Glaubensvorstellungen verabschiedet hat! Im Mittelalter wurden Menschen, die die »Sünde des Selbstmords« begangen hatten, nach ihrem Tod verurteilt, rituell hingerichtet, zerstückelt, geköpft und wie ein Tier außerhalb des Friedhofs verscharrt. Im 16. Jahrhundert wurde die nachträgliche Hinrichtung von »Selbstmördern« zwar aufgegeben, doch man begrub sie mancherorts bis ins 20. Jahrhundert hinein ohne Zeremonie in »ungeweihter Erde« in der Nähe der Friedhofsmauer. Wenn man bedenkt, dass der »überlegte Selbstmord« noch bis 1983 im katholischen Kirchenrecht als Ausschlussgrund für ein christliches Begräbnis galt, ist es tatsächlich bemerkenswert, dass sich katholische und evangelische Geistliche nicht nur an den großen Trauerzeremonien für Robert Enke beteiligten, sondern auch mit großem Respekt über den Toten sprachen.
    Aber das heißt nicht, dass die Kirchen den Freitod nun akzeptieren würden, oder?
    Nein, absurderweise kommen sie mit dem tragischen Suizid , der »Selbsttötung als Verzweiflungstat«, eher zurecht als mit dem rationalen Freitod , bei dem ein Mensch tatsächlich das Geschick hat, zur »rechten Zeit« aus dem Leben zu treten. Im »Katechismus der Katholischen Kirche« heißt es dazu, dass »schwere psychische Störungen« die »Verantwortlichkeit des Selbstmörders vermindern« könnten. An sich bleibt der Suizid nach katholischer Auffassung aber unverantwortlich, da er der »Liebe zum lebendigen Gott« widerspricht. Schließlich seien wir bloß »Verwalter, nicht Eigentümer des Lebens, das Gott uns anvertraut hat«, und dürften »darüber nicht verfügen«.
    Das ist ja schräg: Ich soll nur ein »Verwalter« und nicht »Eigentümer« meines eigenen Lebens sein?
    Ja, und deshalb darfst du nach christlichem Verständnis auch nicht selber bestimmen, wann die »rechte Zeit« zum Sterben ist …
    Was für ein Quatsch! Hmmm … Der Begriff der »rechten Zeit« meint doch nicht nur, dass man »zu früh« sterben kann wie Enke, sondern auch »zu spät«, oder?
    Gut erkannt! Nietzsches Zarathustra-Kapitel »Vom freien Tode«, aus dem später der Begriff »Freitod« abgeleitet wurde, beginnt mit dem Satz: »Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh.« Dahinter steckt zweifellos eine gute Portion Zynismus. Was Nietzsche über die »Überflüssigen« schrieb und über den »zahnlosen Mund«, der nicht mehr das »Recht zu jeder Wahrheit« habe, lehne ich entschieden ab! Dennoch enthält seine Diagnose, dass viele Menschen »zu spät sterben«, eine bittere Wahrheit

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