Leiche in Sicht
warum
gerade heute abend?
«Darf ich reinkommen?»
«Aber ja, natürlich! Wie schön, Sie zu
sehen.» Er hatte sie, ohne es zu wissen, die ganze Zeit über angestarrt.
Verlegen trat er beiseite, um sie einzulassen. Als sie die Tür hinter sich
geschlossen hatten, war er ratlos. Er wußte nicht, worüber er mit ihr reden
sollte. «Möchten Sie eine Tasse Tee?»
«Ach ja, wenn Sie sowieso welchen
machen.» Er ging voran zur Küche.
Sie unterhielten sich über
nebensächliche Dinge. Charlotte erkundigte sich nach dem Haus, wie lange er
hier schon lebe, wann seine Frau gestorben sei. Mr. Pringle gab mechanisch
Antwort. Es bestand kein Grund, warum Charlotte ihn nicht besuchen sollte,
dachte er. Oder?
«Wir lassen den Tee besser noch etwas
ziehen.» Sie gingen hinüber ins Wohnzimmer, und er bot ihr einen Stuhl an.
Lächelnd nahm sie Platz. Der etwas düstere Raum wirkte plötzlich viel
freundlicher. Er sah sie an und merkte, daß sie den Tränen nahe war.
«Hat Matthew Ihnen erzählt, was die
Polizei behauptet hat?»
Er nickte. «Ja, er hat gesagt, sie
hätten entdeckt, daß zwischen Ihrer Aussage und der von John und Patrick ein
Widerspruch bestünde.»
«Aber ich habe nicht gelogen», rief
Charlotte heftig, «ich kann mich nur nicht mehr genau erinnern, was passiert
ist, nachdem ich vor Gill weggelaufen bin. Ich war so aufgeregt!» Ihre blauen
Augen sahen ihn bittend an, er möge ihr glauben. «Ich weiß nicht, wie lange es
gedauert hat, bis ich wieder bei den anderen war — mir schien es wie zehn
Minuten.»
Er holte den Tee, um ihr Zeit zu geben,
sich wieder zu beruhigen. «Aber zwischen zehn Minuten und fast einer
Dreiviertelstunde ist schon ein Unterschied», bemerkte er vorsichtig. Sie
blickte ihn enttäuscht an.
«Sie sagen dasselbe wie alle anderen
auch!»
«Milch oder Zitrone?»
Charlotte lehnte sich zurück und schloß
die Augen. Das schwere, goldene Haar stand wie ein Heiligenschein um ihren
Kopf. Sie war totenblaß. Ihm fiel ein, wie schön sie ausgesehen hatte, als sie
im Restaurant von Levkas mit Matthew getanzt hatte — ob sie wohl jemals wieder
so lebenssprühend sein würde wie an jenem Abend? «Versuchen Sie, sich nicht
allzu viele Gedanken zu machen.» Sie blickte ihn ernst an.
«Das tue ich eigentlich auch nicht.
Nicht mehr jedenfalls. Hauptsache, ich weiß, daß ich die Wahrheit gesagt habe.»
Sie beugte sich vor und blickte ihn forschend an: «Glauben Sie, daß Matthew
ehrlich ist?» Mr. Pringle fühlte, wie er rot wurde.
«Wieso fragen Sie das?» Sie wartete
einen Moment und lächelte dann bitter.
«Ich nehme an, es ist Ihnen peinlich,
mir die Frage zu beantworten», sagte sie leise. «Aber es kommt auf die Antwort
auch nicht mehr an, er hat ja inzwischen alle von sich überzeugt. Das allein
zählt. Pa vertraut ihm. Er hat mich übrigens beauftragt, Sie zu fragen, ob Sie
mit Ihren Ermittlungen weitergekommen seien?»
Mr. Pringle zwang sich, nicht zu ihr
hinüberzublicken. Er wollte gar nicht wissen, wieviel von dieser Antwort für
sie abhing. Eine Fliege kroch langsam über den Tisch, doch Mr. Pringle machte
keine Anstalten, sie totzuschlagen. Mr. Fairchild, dachte er, war eine wichtige
Persönlichkeit, ein einflußreicher Geschäftsmann, daran gewöhnt, seine
Vorstellungen durchzusetzen. Wie weit würde ein solcher Mann gehen, um das
Glück seiner Tochter zu schützen? Ach, vielleicht war es ganz gut, daß er die
Antwort darauf nicht kannte. Er schob den Gedanken beiseite.
«Erzählen Sie mir doch noch einmal, was
sie getan haben, nachdem Sie von Gill weggelaufen waren.» Charlotte umklammerte
die Stuhllehne. «Ich habe schon so oft darüber gesprochen», sagte sie, «daß ich
manchmal gar nicht mehr weiß, ob ich es wirklich erlebt oder mir nur
eingebildet habe. Aber ich kann mich noch gut erinnern, daß ich vor allen
Dingen wütend gewesen bin, als Gill an mir herumfingerte, wütend über mich
selbst, daß ich nicht besser aufgepaßt hatte.» Sie strich sich die Haare
zurück. «Ich hätte es nämlich eigentlich wissen können... Welcher Mann läßt
schon so eine Gelegenheit aus...» Ohne den Kranz von Haaren wirkte ihr Gesicht
streng, fast hart.
«Und was war hinterher, als Sie ihn los
waren?»
«Das weiß ich eben nicht mehr so genau.
Ich bin, glaube ich, einfach ziellos herumgewandert. Ich wollte vor allem noch
ein bißchen allein sein, deshalb bin ich auch den Hügel hinaufgelaufen. Ich
wollte nicht gesehen werden—nicht in diesem Zustand. Es ist schon möglich,
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