Leiche in Sicht
nützt? Werde ich dann sicher sein können,
was die Gefühle anderer Leute mir gegenüber angeht?» Sie sah ihn fragend an.
Es kostete ihn Mühe, ihren Blick zu
erwidern. «Ja. Bestimmt.» Würde sein Neffe Matthew der moralischen Anforderung
gewachsen sein? Er wußte es nicht.
Auch auf den anderen Booten begannen
sich jetzt die Leute zu regen, die ersten kamen an Deck, man grüßte sich
gegenseitig, wenn auch ein wenig verlegen wegen des ungewohnten Aufzugs, denn
fast alle waren noch im Schlafanzug. Das Surren der elektrischen Rasierer
übertönte bald das Zirpen der Grillen. Auf dem Boot der Clarkes konnte man
hören, wie sich die Kinder zankten. Mr. Pringle ging unter Deck.
Seine zaghafte Hoffnung auf einen
erholsamen Urlaub sollte sich endgültig zerschlagen. Jeder Tag der Reise, so
erfuhr er nun, würde mit einer «Unterweisung» beginnen. Die kleine Versammlung
sah eigentlich harmlos genug aus. Die Skipper der verschiedenen Boote standen
oder saßen im Halbkreis um Patrick, der auf ihren Seekarten bestimmte
Markierungen eintrug. Einige taten so, als hörten sie seinen Ausführungen nicht
zu, Phyllis dagegen stellte eine Unmenge Fragen. Da er ohnehin nicht verstand,
um was es ging, beschloß Mr. Pringle, an Land zu gehen und an Ianni einige
seiner griechischen Floskeln, die er gelernt hatte, auszuprobieren. Louise, die
Skipperin von der Pisces, folgte ihm. Ohne ihn zu fragen, setzte sie
sich an seinen Tisch und bestellte sich einen Ouzo. Er fühlte sich unbehaglich.
«Hey, Pring!»
«Guten Morgen.» Sie saß so nahe bei
ihm, daß er ihren säuerlichen Atem riechen konnte.
«Hören Sie, Sie können sich offenbar
mit diesen Leuten hier verständigen, oder? Ich bin etwas überstürzt von zu
Hause aufgebrochen — könnten Sie den Wirt hier mal fragen, ob es hier irgendwo
in der Gegend eine Apotheke gibt?» Mr. Pringle bedauerte, ihr nicht dienen zu
können. Bis einschließlich Lektion fünf von Griechisch — leicht
gemacht setzte man offenbar noch voraus, daß die Schüler gesund waren.
«Vielleicht hat Kate etwas für Sie in
ihrem Erste-Hilfe-Kasten.»
«Das bezweifle ich, Pring. Für meine
Art Probleme ist in solchen Kästen für gewöhnlich nichts dabei. Hat Sie Ihnen
übrigens erzählt, was mit mir los ist?»
«Ja», sagte er ein wenig verlegen. Sie
kippte den Rest ihres Drinks und schnippte mit den Fingern nach einem zweiten.
Sie sah ungepflegt aus. Ihr strähniges Haar hätte eine Wäsche vertragen, und
ihr Kleid war zerknittert, als hätte sie darin geschlafen. Doch ihre Augen in
dem hageren Gesicht strahlten Intelligenz und einen gewissen sardonischen Humor
aus.
«Sehen Sie mich nicht so mitleidig an,
Pring. Alkoholiker zu sein ist heutzutage nicht mehr das Schlimmste — jetzt, wo
sie Aids entdeckt haben. Stellen Sie sich vor, einer sagt, daß er es hat, und
alle Welt weiß gleich oder glaubt zu wissen, wo er sich’s geholt hat.» Mr.
Pringle räusperte sich. «Ich sage allen Leuten gleich, was mit mir los ist,
weil ich denke, daß es töricht wäre zu versuchen, es zu verheimlichen.» Ihre
Hände zitterten noch ein wenig, aber sie sog nicht mehr ganz so gierig an ihrer
Zigarette.
«Wenn man so eng zusammenlebt wie Sie
jetzt mit den Harpers, ist verheimlichen wahrscheinlich auch gar nicht
möglich.»
«Ge-nau! Dieser Roge hat zuerst ein
Wahnsinnstheater gemacht, aber Maureen hat gut reagiert. Wie kommt so ein
Scheißtyp wie der bloß zu so einer netten Frau?» Mr. Pringle wußte es auch
nicht.
«Ich werde Ihnen etwas verraten, Pring.
Roge ist darauf aus, jemanden zu finden, der ihn finanziert.» Sie schüttelte
den Kopf wie ein störrischer Hund und murmelte vor sich hin: «Geld, Geld, Geld,
Geld, Geld...» Dann hielt sie plötzlich inne und schloß die Augen, als warte
sie darauf, daß ihr durchgeschütteltes Gehirn sich wieder beruhige.
«Er hat irgendeine geschäftliche Idee —
er ist ja so ein Langweiler, Pringle, Sie können es sich nicht vorstellen. Er
redet von nichts anderem. Ich habe ihm gleich gesagt, daß ich keinen Cent übrig
hätte, und jetzt versucht er es bei den anderen... He!» Ianni lief mit einer
Flasche in der Hand vorbei. Wie lange würde es noch dauern, dachte Mr. Pringle,
bis Roge Elizabeth entdeckt hatte?
«Vielleicht macht ihm das Segeln ja
Spaß und er vergißt das Geschäftliche?»
«Das wage ich zu bezweifeln.» Louise
sah ihn düster an. «Wenn ich mich nicht sehr täusche, hat Roges einziger
Kontakt mit dem Wasser bisher in der Badewanne stattgefunden.»
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