Leiche in Sicht
behaupten wollen, daß Elizabeth eine jener
hysterischen jungen Frauen gewesen sei, die sich aufgrund irgendeines spontanen
Impulses umbringen? In meinen Augen war sie eine sehr ausgeglichene,
vernünftige Person, selbst wenn sie dir wegen Charlotte die Hölle heiß gemacht
hat.»
«Aber, wie Em schon sagte, sie hatte an
dem Abend zuviel getrunken», gab sein Neffe zu bedenken.
«Aber Matthew», sagte Mr. Pringle
eindringlich, «kannst du dir wirklich vorstellen, daß sie unter Alkoholeinfluß
etwas hätte tun können, was ihrem Charakter völlig fremd war? Wenn ich an den
Abend in Levkas denke, wo sie ja auch eifersüchtig war, dann würde ich eher
meinen, daß sie, wenn sie getrunken hatte, gereizt und aggressiv wurde.»
Offenbar hatte er damit einen wunden
Punkt angesprochen. Sein Neffe wurde auf einmal ganz bleich. «Ich habe Liz
keinen Anlaß gegeben», sagte er heiser, «nicht nach Levkas.»
«Das weiß ich doch, mein Junge. Nun hör
doch endlich auf, dich zu quälen! Worauf ich hinauswill, ist, daß sich an jenem
Abend bei dem Felsen möglicherweise noch eine zweite Person aufgehalten hat.
Ich glaube Charlotte, wenn sie sagt, daß sie Gill begegnet ist — aber das heißt
ja nicht, daß nicht noch jemand anders oben gewesen sein könnte.» Matthew
brauchte einige Zeit, um zu verstehen, worauf sein Onkel hinauswollte.
«Du meinst — jemand hat Liz
umgebracht...?» sagte er schwerfällig.
«Nein, nicht unbedingt. Vielleicht gab
es ein Handgemenge wie zwischen Emma und ihrem Angreifer in Spartahouri...»
«Aber — das hieße doch, daß es Mord
war!» schrie Matthew schrill. Mr. Pringle dachte an die Mitpassagiere und
duckte sich innerlich. Ohne den Kopf zu heben, sagte er mit gedämpfter Stimme:
«Ich denke, rein juristisch gesprochen, wäre es wohl Totschlag — vorausgesetzt,
es geschah nicht aus Vorsatz.»
Sie einigten sich, daß er der Polizei
von seinen Überlegungen erzählen sollte — die Frage war nur, wie? In Gatwick
herrschte wie immer viel Betrieb, und keiner der uniformierten Polizisten
schien in Mr. Pringles Augen geeignet, ihn mit seinem Problem zu konfrontieren.
Nachdem er und Matthew sich kurz beraten hatten, entschied Mr. Pringle, daß er
am nächsten Morgen bei seinem eigenen Polizeirevier vorstellig werden würde.
Sie würden ihm in jedem Fall sagen können, wohin er sich wenden sollte. Er
verabschiedete sich von seinem Neffen und trat die Rückfahrt an. Wie immer,
wenn er aus den Ferien kam, regnete es.
Das ungeheizte Haus war so deprimierend,
daß sich Mr. Pringle gleich wieder auf den Weg zum Bricklayers machte.
Er hatte das Gefühl, als ob die Ereignisse ihn eingeholt hätten: Beim Betreten
des Pubs spürte er in sich auf einmal nichts als Leere und Trauer. Obwohl Mavis
überrascht war, ihn zu sehen, spürte sie schnell, daß etwas nicht in Ordnung
war, und dirigierte ihn in eine ruhige Ecke.
«Nun, was ist passiert? Wieso bist du
schon wieder zurück?» Er erzählte ihr von Liz’ Tod. Obwohl Mavis eine ganze
Menge vertrug, dauerte es doch eine ganze Weile, bis sie sich von ihrem Schock
erholt hatte. «Das arme Ding, das arme Ding...» wiederholte sie immer wieder
und hob mit zitternder Hand ihr Portweinglas zum Mund. «Wie hat Matthew es
aufgenommen?»
«Er ist sehr niedergeschlagen.
Zwischendurch scheint es so, als ob es ihm besser ginge, aber im nächsten
Moment ist er schon wieder den Tränen nahe.»
«Der arme Kerl! Aber dir würde es an
seiner Stelle nicht anders gehen. Es muß schrecklich sein für ihn. Und du
meinst, jemand von eurer Reisegruppe könnte es getan haben?»
«Das ist nur so eine Theorie», sagte
Mr. Pringle vorsichtig, «aber es ist die einzig mögliche Erklärung. Es sei
denn, man akzeptiert, daß Elizabeth Selbstmord begangen hat.»
«Ich könnte mir vorstellen, daß du
recht hast», sagte Mavis nachdenklich. «Wie ich dich kenne, wirst du es dir
gründlich überlegt haben, bevor du so eine Annahme aussprichst. Du solltest
gleich morgen früh zur Polizei gehen und es ihnen erklären. Vermutlich werden
sie sich freuen, einen Hinweis zu bekommen.» Mr. Pringle war da nach seinen
Erfahrungen in Griechenland eher skeptisch. Mavis trank ihr Glas leer und
sagte: «Ihr Tod ist für uns beide ein schrecklicher Schock gewesen. Und dein
Haus ist sicherlich noch ganz kalt und ungemütlich. Was hältst du davon, mit
mir zu kommen?» Im Dunkeln liegend und mit Gedanken an den Tod beschäftigt,
spendete ihnen doch die Nähe des anderen
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