Leichenblässe
GEMACHT, YORK?», brüllte er mit verzerrtem Gesicht. «KOMM RAUS, DU VERFLUCHTER FEIGLING!»
Es gab keine Antwort. Sobald das Echo verklungen war, schien uns die Stille einzuschließen. Das leise Tropfen eines unsichtbaren
Wasserhahns zählte wie ein entfernter Puls die Augenblicke ab.
Dann hörten wir etwas. Es war nur ein ganz schwaches, kaum wahrnehmbares Geräusch, aber es war unverkennbar.
Ein ersticktes Wimmern.
Es kam aus einem der anderen Behandlungszimmer. Paul lief los und riss die Tür auf. Vor den Wänden waren batteriebetriebene
Sturmlaternen aufgestellt worden, die allerdings nicht eingeschaltet waren. Doch durch die Tür fiel genug Licht, um die reglose
Gestalt in der Mitte zu sehen.
Paul ließ das Messer fallen.
«Sam!»
Ich tastete nach der ersten Lampe und schaltete sie ein. Die plötzliche Helligkeit blendete mich. Dann sah ich Sam gefesselt
auf einem alten Massagetisch liegen. Vor ihrem Kopf stand ein Stativ mit einer Kamera, deren Objektiv direkt auf ihr Gesicht
gerichtet war, daneben ein Holzstuhl. Die Szenerie ähnelte jener, die wir in der Berghütte vorgefunden |378| hatten. Ihre Handgelenke und Knöchel waren mit breiten Lederriemen fixiert, ein schmalerer war ihr um die Kehle gebunden worden,
fest genug, um sich in die weiche Haut einzugraben. Der Halsriemen war mit einem komplizierten Gerät aus Zahnrädern verbunden,
aus dem eine Holzkurbel hervorragte.
Yorks Garrotte.
Das alles nahm ich in den ersten Sekunden wahr, die ich in der kleinen Kammer stand.
Wir kommen zu spät
, dachte ich, als ich erkannte, wie straff der Riemen um ihren Hals saß. Doch dann trat Paul einen Schritt zur Seite, und
ich sah, dass Sam die Augen vor Angst weit aufgerissen hatte und am Leben war.
So, wie sie da festgebunden auf dem Tisch lag, wirkte ihr Bauch unfassbar groß. Ihr Gesicht war rot und tränenverschmiert,
in ihrem Mund steckte ein dicker Gummiknebel. Nachdem Paul ihn herausgenommen hatte, schnappte sie nach Luft, doch der Riemen
um ihren Hals machte ihr das Atmen schwer. Sie versuchte, schnaufend zu sprechen.
«Alles in Ordnung. Ich bin ja da. Beweg dich nicht», sagte Paul ihr.
Als ich die Riemen löste, die Sams Knöchel fixierten, rutschte ich mit einem Fuß aus. Ich schaute hinab und sah dunkle Spritzer
auf den weißen Fliesen. Mir wurde kalt, denn mir fielen sofort die Blutspuren im Krankenwagen ein. Doch dann wurde mir klar,
dass es kein Blut war.
Sams Fruchtblase war geplatzt.
Jetzt beeilte ich mich noch mehr mit den Knöchelriemen. Neben mir griff Paul nach der Kurbel der Schlinge.
«Nicht anfassen!», warnte ich ihn. «Wir wissen nicht, in welche Richtung sie gedreht werden muss.»
Wir mussten Sam zwar dringend hinausbringen, aber der |379| Riemen grub sich bereits tief in ihren Hals. Wenn wir die Schlinge irrtümlich fester gezogen hätten, hätte es sie umbringen
können.
Paul sah mich unschlüssig an. Dann begann er den Boden abzusuchen. «Wo ist das Messer? Ich schneide …»
Ein markerschütterndes Brüllen ließ ihn verstummen. Es kam aus dem dunklen Raum hinter dem Torbogen neben dem Schwimmbad.
Es wurde höher und klang kaum noch menschlich, als es von den Wänden widerhallte und dann erstarb.
In der Stille war wieder das entfernte Tropfen zu hören. Paul starrte mich fragend an.
Dann taumelte York durch den Torbogen.
Der Bestattungsunternehmer war kaum wiederzuerkennen. Sein dunkler Anzug war völlig verdreckt, sein Haar verfilzt. Die Sehnen
an seinem Hals traten dick wie Stifte hervor, als er uns anschrie und mit beiden Händen ein langes Messer schwang. Selbst
von dort, wo ich stand, konnte ich im schwachen Licht das Blut auf Klinge und Händen sehen.
Mit tauben und schweren Armen packte ich den Holzstock, den ich fallen gelassen hatte.
«Bring sie raus!», sagte ich mit zittriger Stimme zu Paul und ging dann aus der Kammer, um York entgegenzutreten.
Er kam mit einem seltsamen Watschelgang auf mich zu und fuchtelte brüllend mit dem Messer umher. Der Stock in meiner Hand
kam mir jämmerlich vor.
Lenk ihn einfach von
den beiden ab. Vergiss alles andere.
«Warten Sie …!», rief ich. Auf jeden Fall, glaubte ich, es gerufen zu haben. Später war ich mir nicht mehr sicher, ob ich die Worte wirklich
laut ausgesprochen hatte.
«Messer fallen lassen!»
Der Ruf kam aus dem Gang, der zur Treppe führte. Ich |380| atmete erleichtert auf, als Gardner, dicht gefolgt von Jacobsen, durch die Tür stürzte. Sie hatten ihre
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