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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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ließ. «Gardner?
Gardner!
»
    Die Verbindung war zusammengebrochen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel er gehört hatte oder ob er überhaupt etwas gehört hatte,
     aber es war keine Zeit, um ihn zurückzurufen. Paul war mitten im Foyer stehen geblieben.
    «SAM! WO BIST DU?
SAM!
»
    «Paul   …!»
Ich hielt ihn fest. Er schüttelte mich ab.
    «Er weiß doch längst, dass wir hier sind!
Oder, du Scheiß
kerl
?
», |369| brüllte er.
«Hörst du mich? Ich komm dich holen,
York!»
    Seine Kampfansage blieb unbeantwortet. In dem großen, leeren Foyer klang unser Atem unnatürlich laut. Das Fundament war entweder
     von Termiten unterhöhlt worden oder abgesackt, jedenfalls fiel der gesamte Boden auf einer Seite tückisch ab. Wie schmutziger
     Filz lag auf jeder Oberfläche eine dicke Staubschicht. Von den Wänden hingen ausgeblichene Tapetenstreifen, und vom Geländer
     der einst pompösen Treppe in der Mitte des Raumes war der Handlauf gerissen worden, sodass die Streben wie lockere Zähne in
     die Luft ragten. Daneben befand sich ein altmodischer Fahrstuhl, der seinen letzten Einsatz vor Jahrzehnten gehabt haben musste
     und dessen verrostete Metallkabine voller Schutt war. Es roch nach Alter und Feuchtigkeit, nach Schimmel und morschem Holz.
     Und nach etwas anderem.
    Obwohl nur schwach, lag auch hier der widerlich süße Verwesungsgeruch in der Luft.
    Als Paul auf die Treppe zulief, polterten seine Schritte über den Holzboden. Die Stufen ins Untergeschoss waren eingestürzt,
     an ihrer Stelle waren nur noch ein schwarzes Loch und Trümmer. Er wollte nach oben gehen, doch ich hielt ihn zurück. Während
     die eine Seite des Gebäudes aussah, als würde sie jederzeit zusammenbrechen, gab es auf der anderen Seite eine Tür, auf der
Privat
stand. Der verstaubte Parkettboden zwischen der Tür und dem Eingang war mit Fußspuren und schmalen Reifenspuren durchzogen,
     die von einem Fahrrad hätten stammen können.
    Oder von einem Rollstuhl.
    Paul umklammerte seinen Holzstock, lief los und riss die Tür auf. Ein dunkler Korridor erstreckte sich vor uns, in den nur
     durch ein kleines Fenster am anderen Ende Licht fiel.
    |370| «SAM!», schrie er.
    Sein Schrei verhallte. Mehrere Türen führten von dem Korridor ab. Paul rannte los und riss sie der Reihe nach auf. Als sie
     gegen die Wand knallten, hörte es sich an wie Schüsse. Dahinter befanden sich Lagerräume, die nur leere Schränke und Spinnweben
     enthielten. Ich folgte ihm bis zur letzten Tür. Nachdem er auch sie aufgeschleudert hatte, musste ich angesichts der plötzlichen
     Helligkeit blinzeln.
    Eine leere Küche lag vor uns.
    Die Sonne schien schräg durch die schmutzigen Fenster und tauchte den Raum in das trübe grüne Licht eines Aquariums. In einer
     Ecke stand ein Feldbett, auf dem ein zusammengeknüllter Schlafsack lag. Hinter dem Kopfende war ein Regal aus Brettern und
     Latten errichtet worden, die sich unter dem Gewicht alter Bücher bogen. Auf einem riesigen Herd mit Holzfeuerung stapelten
     sich verkrustete Pfannen und Töpfe, und zwei große Spülbecken quollen mit dreckigem Geschirr über. In der Mitte des Raums
     stand ein zerschrammter Kiefernholztisch. Die Teller darauf waren zur Seite geschoben worden, um Platz für einen Verbandskasten
     zu machen, aus dem eine übriggebliebene Bandage hing. Ich musste an das verzogene Lenkrad des Krankenwagens denken und spürte
     eine gewisse Schadenfreude.
    Erst als ich mich abwandte, fiel mir auf, dass eine Wand des Raumes vollständig mit Fotografien bedeckt war.
    York hatte sich eine Fotomontage seiner Opfer an die Wand geheftet. Es waren die gleichen Schwarzweißaufnahmen von gequälten
     Gesichtern, die ich in seinem Haus gesehen hatte. Die grausige Galerie bestand aus so vielen Bildern von Männern und Frauen
     jeden Alters und aller Ethnien, dass man sie unmöglich auf den ersten Blick erfassen konnte. Einige der Fotografien waren
     im Laufe der Zeit bereits vergilbt |371| und wellig geworden. Auf einem Regalbrett darunter lagen Brieftaschen, Portemonnaies und Schmuckstücke, die offenbar genauso
     achtlos weggeworfen worden waren wie die Leben ihrer Besitzer.
    Plötzlich streifte etwas Klebriges mein Gesicht. Ich schreckte zurück und wäre fast über einen Stuhl gestolpert, ehe ich erkannte,
     dass es nur ein Fliegenfänger war. Eine Sumpflibelle hing daran. Sie war noch am Leben, aber hoffnungslos verfangen, und die
     hektischen Bewegungen verschlimmerten ihre Lage nur. Jetzt sah ich, dass überall

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