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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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das einzige Geräusch war noch immer das Tropfen des Hahns. Gardner hatte das Behandlungszimmer bereits
     mit einer Hand auf seiner Waffe verlassen. Ich folgte ihm.
    Im Bad hatte sich nichts verändert. York lag noch immer reglos in einer pechschwarzen Blutlache. Gardner schaute schnell durch
     den Torbogen, der zu den versperrten Räumen führte. Er entspannte sich und ließ seine Jacke wieder über die Pistole fallen.
    «Kann alles Mögliche gewesen sein   …»
    Er wirkte verlegen, aber ich konnte seine Nervosität verstehen. Mich hätte es auch erleichtert, wenn seine Kollegen endlich
     eingetroffen wären.
    «Zeigen Sie mir doch mal die anderen Leichen», sagte Gardner wieder ganz sachlich.
    Ich zeigte ihm den kleinen Raum, in dem Paul und ich Summer gefunden hatten, ging aber nicht mit ihm hinein. Ich hatte bereits
     mehr gesehen, als ich wollte. Ich wartete im Bad neben Yorks Leiche. Sie lag ausgestreckt auf der Seite in den Scherben des
     zersplitterten Spiegels, die in dem Blut wie silberne Inseln aussahen.
    Als ich auf die leblose Gestalt hinabschaute, war es mir |389| einmal mehr unbegreiflich, wie ein Mensch in einem Moment noch von einer wütenden Kraft besessen sein und schon im nächsten
     in absoluter Reglosigkeit daliegen konnte. Ich fühlte mich so leer, dass ich weder Hass noch Mitleid empfand. Letztlich hatte
     York die zahllosen Menschenleben in dem sinnlosen Versuch geopfert, eine einzige Frage zu beantworten:
Soll das alles gewesen sein?
    Jetzt hatte er seine Antwort.
    Ich wollte mich abwenden, doch da ließ mich etwas innehalten. Unsicher, ob ich es mir nur eingebildet hatte, schaute ich wieder
     hinab auf York. Es war keine Einbildung.
    Mit seinen Augen stimmte etwas nicht.
    Vorsichtig, um nicht ins Blut zu treten, hockte ich mich neben die Leiche. Die leblosen Augen waren so stark blutunterlaufen,
     dass sie verbrüht aussahen. Die Haut darum war entzündet und voller Blasen. Genauso sein Mund. Ich beugte mich vor und wich
     sofort wieder zurück, als die beißenden Dämpfe meine Augen tränen ließen.
    Fotochemikalien.
    Aufgewühlt drehte ich Yorks Leiche auf den Rücken. Die blutverschmierte Hand, die das Messer hielt, fiel schlaff zu Boden.
     Ich erinnerte mich, wie Gardner dagegengetreten hatte, ehe er den Puls gefühlt hatte. Trotzdem umklammerte die leblose Faust
     noch immer das Messer. Jetzt sah ich, weshalb.
    Yorks blutverschmierte Finger waren an den Griff genagelt worden.
    In diesem Moment wurde mir alles klar. Yorks gequälte Bewegungen und unverständliche Schreie, das wilde Umherfuchteln mit
     dem Messer. Er musste unter heftigen Schmerzen gelitten haben, als er mit verätzten Augen und Mund versucht hatte, die Nägel
     aus seiner Hand zu ziehen. Wir hatten |390| nur das gesehen, was wir erwartet hatten: die wahnsinnige Attacke eines Irren. Aber York hatte uns nicht attackiert.
    Er hatte um Hilfe gefleht.
    O mein Gott
. «Gardner!», rief ich und begann mich aufzurappeln.
    Ich hörte, wie er hinter mir aus dem Behandlungsraum kam. «Um Gottes willen, was zum Teufel machen Sie denn da   …?»
    Was dann passierte, erlebte ich in einer albtraumhaften Zeitlupe.
    Die Reste des großen Spiegels, den York zerschmettert hatte, hingen noch an der Wand vor mir. Auf diesen Scherben sah ich
     Gardner am Schwimmbad vorbeigehen. In dem Augenblick bewegte sich eine der darin liegenden Leichen. Mir versagte die Stimme,
     als sie sich von den anderen erhob und hinter ihm aufrichtete.
    Die Zeit lief wieder in normaler Geschwindigkeit. Ich gab einen Warnruf von mir, aber es war zu spät. Ich hörte einen erstickten
     Schrei, und als ich aufstand, sah ich, wie Gardner versuchte, den Arm wegzudrücken, der sich wie ein Schraubstock um seinen
     Hals gelegt hatte.
    Würgegriff
, dachte ich gelähmt. Als die Gestalt hinter ihm sich bewegte und ihr das schummrige Licht von den vernagelten Fenstern aufs
     Gesicht fiel, erkannte ich entsetzt, wer es war.
    Kyle atmete keuchend durch den offenen Mund. Das runde Gesicht war noch dasselbe, doch sonst war das hier nicht mehr der freundliche
     junge Assistent des Leichenschauhauses, an den ich mich erinnerte. Seine Kleidung und sein Haar waren mit den Flüssigkeiten
     der verwesenden Leichen verklebt, und sein Gesicht war selbst leichenblass. Aber seine Augen waren am schlimmsten. Ohne das
     Lächeln, das er |391| sonst zur Schau getragen hatte, sahen sie trübe und leer aus, als wären sie bereits tot.
    «Ein Schritt, und ich bringe ihn um!», sagte er

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