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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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weiterer, ähnlich gekleideter Mann war
     bei ihm, der die auf einem Aluminiumtisch liegende Leiche mit einem Schlauch abspritzte, um die Insekten und Schmeißfliegenlarven
     abzuspülen.
    «Morgen», sagte Tom vergnügt, als die Tür hinter mir zuschwang.
    Ich deutete mit einer Kopfbewegung zum C D-Player . «Buddy Rich?»
    «Völlig daneben. Louie Bellson.» Tom richtete sich von der tropfnassen Brusthöhle auf. «Du bist früh dran.»
    «Nicht so früh wie du.»
    «Ich wollte die Leiche röntgen lassen, damit die Dentalaufnahmen zum TBI geschickt werden können.» Er zeigte auf den jüngeren
     Mann, der noch immer die Leiche abspülte. «David, das ist Kyle, einer der Assistenten des Leichenschauhauses. Ich habe ihn
     gebeten, mir zu helfen, bis du hier bist, aber erzähl das nicht Hicks.»
    Assistenten des Leichenschauhauses waren beim Büro des Leichenbeschauers angestellt, weshalb Hicks im Grunde Kyles Chef war.
     Ich hatte vergessen, dass der Pathologe hier arbeitete, und ich beneidete niemanden, der ihm unterstellt war.
    Aber Kyle schien das nicht zu stören. Er war ein großer, zwar nicht gerade dicker, aber ziemlich kräftig gebauter Typ. Unter
     einem unordentlichen Haarschopf strahlte ein freundliches Mondgesicht.
    «Hi», sagte er und hob eine Hand.
    «Außerdem wird uns eine meiner Studentinnen helfen», fuhr Tom fort. «Eigentlich sind drei Leute nicht erforderlich, |74| aber ich habe ihr versprochen, dass sie bei meiner nächsten Untersuchung dabei sein kann.»
    «Wenn du mich hier nicht brauchst   …»
    «Es gibt eine Menge zu tun. So werden wir schneller fertig.» Toms Lächeln sagte mir, dass ich nicht so einfach davonkommen
     würde. «Anzüge und den Rest findest du am Ende des Gangs im Umkleideraum.»
    Ich hatte den Umkleideraum für mich allein. Ich legte meine Sachen in einen Spind und zog mich um. Was wir nun zu tun hatten,
     war wahrscheinlich der grausigste Teil unserer Arbeit, mit Sicherheit aber der schmutzigste. DN A-Tests konnten bis zu acht Wochen dauern, und über Fingerabdrücke fand man die Identität des Opfers nur dann heraus, wenn es bereits
     aktenkundig war. Doch selbst bei einer derart stark verwesten Leiche wie dieser konnte die Identität und manchmal auch die
     Todesursache am Skelett abgelesen werden. Bevor man das allerdings tun konnte, musste das gesamte, noch vorhandene Gewebe
     restlos entfernt werden.
    Und das war keine angenehme Arbeit.
    Auf dem Weg zurück in den Autopsiesaal blieb ich vor der Tür stehen. Über dem Geräusch des laufenden Wassers konnte ich Tom
     zur Musik summen hören.
Und wenn ich
erneut einen Fehler mache? Und wenn ich zu dieser Arbeit
nicht mehr fähig bin?
    Aber ich durfte diese Gedanken nicht zulassen. Ich öffnete die Tür und ging hinein. Kyle war mit dem Abspülen der Leiche fertig.
     Tropfnass glänzten die Überreste des Toten, als wären sie poliert worden.
    Tom stand vor einem Rolltisch mit chirurgischen Instrumenten. Als ich zu ihm ging, nahm er eine Gewebeschere und zog die grelle
     Lampe weiter nach unten.
    «Okay, fangen wir an.»
    |75| Die erste Leiche hatte ich als Student gesehen. Es war eine junge Frau, nicht älter als fünf- oder sechsundzwanzig, die bei
     einem Hausbrand ums Leben gekommen war. Sie war durch den Rauch erstickt, ihr Körper war von den Flammen unberührt geblieben.
     Sie lag auf einem kalten Tisch unter dem grellen, entblößenden Licht der Leichenhalle. Ihre Augen waren ein Stück weit geöffnet,
     man sah trübe weiße Schlitze, und ihre Zungenspitze schaute ganz leicht zwischen ihren blutleeren Lippen hervor. Am meisten
     fiel mir auf, wie
ruhig
sie aussah. So erstarrt und reglos wie auf einem Foto. Alles, was sie getan hatte, alles, was sie gewesen war und zu sein
     gehofft hatte, war zu einem Ende gekommen. Für immer.
    Diese Erkenntnis hatte mich mit einer körperlichen Wucht getroffen. Damals wusste ich, dass es immer, egal was ich tat oder
     wie viel ich lernte, ein Geheimnis geben würde, das ich nicht erklären konnte. Doch in den darauffolgenden Jahren bestärkte
     diese Erkenntnis nur meine Entschlossenheit, die konkreteren Probleme innerhalb meines Sachgebietes zu lösen.
    Dann kamen Kara und Alice, meine Frau und meine sechs Jahre alte Tochter, bei einem Autounfall ums Leben. Und plötzlich waren
     solche Fragen nicht mehr nur theoretisch.
    Für eine Weile zog ich mich zurück und arbeitete in meinem ursprünglichen Beruf als Arzt, weil ich glaubte, auf diese Weise
     ein gewisses Maß an

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