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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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Zigarette erkennen. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Straße völlig verlassen
     war.
Wie dumm. Da komme ich den ganzen
Weg hierher, nur um überfallen zu werden   …
    «Halb elf», sagte ich ihm und rechnete jeden Augenblick mit einem Angriff.
    Aber er nickte nur dankend, ging weiter und verschwand in der Dunkelheit hinter der nächsten Laterne. Ich zitterte, nicht
     nur wegen der feuchten Kälte, die vom Fluss aufstieg.
    Auf der einsamen Straße näherten sich wie gerufen die gelben Lichter eines Taxis. Ich hielt es an und ließ mich zurück ins
     Hotel fahren.
     
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Die Katze ist deine früheste Erinnerung.
    Natürlich erinnerst du dich auch an Dinge, die davor geschehen
waren. Aber keine Erinnerung ist so lebendig. Keine
andere kannst du herausnehmen und hin und wieder im
Geiste abspielen. Keine ist so real, dass du wie damals, als du
dich nach vorn gebeugt hast, noch heute die Sonne auf deinem
Hinterkopf spüren und deinen Schatten auf dem Boden
vor dir sehen kannst.
    Die Erde ist weich und lässt sich leicht aufschaufeln. Du
benutzt ein Stück Holz, das vom Zaun abgebrochen ist, ein
Stück von einem morschen weißen Pfahl. Der Stock könnte
jederzeit weiter auseinanderbrechen, aber du musst nicht
tief graben.
    Zuerst riechst du es. Ein ekliger, süßlicher Gestank, der dir
vertraut ist, obwohl du so etwas noch nie gerochen hast. Du
hältst eine Weile inne und schnupperst an der feuchten Erde.
Du bist nervös, vor allem aber aufgeregt. Du weißt, dass du
das nicht tun solltest, doch die Neugier ist zu groß. Du hast
Fragen, so viele Fragen. Aber keine Antworten.
    Kaum gräbst du weiter, stößt du mit dem Stock auf etwas.
Es hat eine andere Beschaffenheit als die Erde. Du kratzt die
letzte Erdschicht weg und bemerkst, dass der Geruch stärker
wird. Schließlich kannst du es sehen: ein vermoderter Schuhkarton
.
    Als du ihn herausheben willst, beginnt sich der aufgeweichte
Karton durch das Gewicht in seinem Inneren
aufzulösen. Du setzt ihn schnell wieder ab. Deine Finger
kommen dir schwerfällig und fremd vor, als du den Deckel
anfasst. Dir schnürt sich die Brust zu. Du fürchtest dich, aber
die Aufregung ist stärker als deine Angst.
    Langsam hebst du den Deckel vom Schuhkarton.
    Die Katze ist ein schmutziger, rötlich gelber Klumpen. Die
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halbgeschlossenen Augen sind blass und trübe und sehen
aus wie luftleere Ballons nach einer Feier. Insekten krabbeln
durch das Fell, Käfer, die vor dem Tageslicht davonhuschen.
Du beobachtest gespannt, wie ein sich windender, fetter
Wurm aus dem Ohr kullert. Dann nimmst du den Stock und
stößt ihn gegen die Katze. Nichts passiert. Du stößt erneut
zu, härter. Wieder passiert nichts. In deinem Kopf bildet sich
ein Wort, eines, das du zwar schon häufiger gehört, bis jetzt
aber nie richtig verstanden hast.
    Tot.
    Du erinnerst dich an die Katze, wie sie war. Ein fetter,
schlechtgelaunter Kater, ein gehässiges Biest mit scharfen
Krallen. Jetzt ist sie   … nichts. Wie ist das lebendige Tier, an
das du dich erinnerst, zu diesem verrotteten Fellklumpen geworden
? Die Frage ist so unfassbar, dass sie dir über den Kopf
steigt. Du beugst dich näher heran, als würdest du die Antwort
finden, wenn du nur gründlich genug nachschaust   …
    …
und wirst plötzlich weggerissen. Das Gesicht des Nachbarn
ist wutverzerrt, es hat aber auch einen Ausdruck, den
du nicht erkennst. Erst Jahre später wirst du wissen, dass es
Abscheu war.
    «Was in Gottes Namen tust du da   …? Oh, du krankes,
kleines Scheusal!»
    Es gibt noch mehr Schreierei, auch später zu Hause. Du
versuchst gar nicht erst zu erklären, was du getan hast, denn
du verstehst es selbst nicht. Aber weder die bösen Worte noch
die Bestrafung können die Erinnerung an das auslöschen,
was du gesehen hast. Oder was du gefühlt hast und selbst
heute noch fühlst und was sich in deiner Magengrube eingenistet
hat. Ein blankes Erstaunen vor den Wundern der Natur
und eine brennende, unersättliche Neugier.
    Du bist fünf Jahre alt. Und damit hat alles begonnen.

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    |70| KAPITEL 5
    Alles schien langsamer zu werden, als das Messer auf mich
zukam. Ich griff danach, aber ich war wie immer zu spät. Die
Klinge glitt mir durch die Hand und schlitzte sie und die Finger
bis auf die Knochen auf. Als mir die Beine wegknickten,
spürte ich das warme Blut auf meinen Händen. Es sammelte
sich auf den schwarzweißen Fliesen und tränkte mein Hemd,
als ich an der Wand hinabrutschte.
    Ich schaute nach unten, sah

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