Leichenblässe
der nächste gewesen. Wir begannen, die großen Fässer
aus rostfreiem Stahl mit Lösungsmittel zu füllen, und stellten sie zum Erhitzen auf die Gasbrenner. Obwohl die Abzugshaube
über den Brennern den größten Teil des Dampfes und des Rauches aus dem Saal saugte, verströmte die Mischung aus Bleichmittel
und dem kochenden Gewebe einen unangenehmen Geruch, der sowohl an eine Wäscherei als auch an ein schlechtes Restaurant erinnerte.
«Sie sind also Engländer?», fragte Summer, während wir arbeiteten.
«Stimmt.»
«Was führt Sie hierher?»
«Ich bin sozusagen auf Forschungsreise.»
«Gibt es in England keine Forschungseinrichtungen?»
«Doch, aber nicht solche wie Ihre.»
«Ja, die Body Farm ist ziemlich cool.» Die großen Augen musterten mich durch die runden Brillengläser. «Wie ist es so als
forensischer Anthropologe drüben bei Ihnen?»
«Vor allem kalt und nass.»
Sie lachte. «Und sonst? Ist es anders?»
Eigentlich hatte ich keine Lust, darüber zu sprechen, aber sie wollte nur freundlich sein. «Na ja, im Grunde ist die Arbeit
die gleiche, aber es gibt ein paar Unterschiede. Zum |82| Beispiel gibt es bei uns nicht so viele verschiedene Polizeibehörden wie hier.» Für einen Laien war die Anzahl der autonomen
Sheriff- und Polizeiabteilungen, ganz zu schweigen von den Staats- und Bundesbehörden, die in den Vereinigten Staaten operierten,
äußerst verwirrend. «Aber der größte Unterschied ist das Klima. Wenn wir nicht gerade einen ungewöhnlich heißen Sommer haben,
trocknen die Leichen bei uns nicht so stark aus wie hier. Wir haben es meistens mit einer feuchten Verwesung zu tun, mit mehr
Schimmel und Schleim.»
Sie verzog ihr Gesicht. «Krass. Schon mal daran gedacht, umzuziehen?»
Ich musste lachen. «Um im Süden unter der Sonne zu arbeiten? Nein, ist mir noch nie in den Sinn gekommen.» Aber ich hatte
schon genug über mich gesprochen. «Und was ist mit Ihnen? Welche Pläne haben Sie?»
Summer stürzte sich in eine lebhafte Beschreibung ihres bisherigen Lebens und ihrer Zukunftspläne und erzählte, dass sie neben
dem Studium in einer Bar in Knoxville arbeitete, um Geld für ein Auto zu sparen. Ich sagte wenig und ließ sie ihren Monolog
halten. Sie arbeitete dadurch nicht langsamer, außerdem fand ich ihren Wortschwall beruhigend, sodass ich überrascht feststellte,
dass beinahe zwei Stunden vergangen waren, als Tom zurückkehrte.
«Ihr seid vorangekommen, wie ich sehe», sagte er anerkennend, als er zum Tisch kam.
«Es ging ziemlich reibungslos.» Ich wollte ihn vor Summer nicht fragen, wie es ihm ging, aber ich konnte sehen, dass er sich
besser fühlte. Er wartete, bis sie sich wieder um die über den Gasbrennern blubbernden Fässer kümmerte, und winkte mich dann
zur Seite.
«Entschuldige, dass es so lange gedauert hat, aber ich habe |83| mit Dan Gardner gesprochen. Es hat eine interessante Entwicklung gegeben. Es gibt keine aktenkundigen Fingerabdrücke von Terry
Loomis, dem Typen, dessen Brieftasche in der Hütte gefunden wurde, sie können also noch nicht mit Sicherheit sagen, ob er
das da ist.» Er deutete auf die Überreste auf dem Autopsietisch. «Aber die Analyse des Abdrucks auf dem Filmbehälter hat etwas
ergeben. Er stammt von einem Willis Dexter, einem sechsunddreißig Jahre alten Schlosser aus Sevierville.»
Sevierville war eine Kleinstadt nicht weit von Gatlinburg, ungefähr zwanzig Meilen von der Berghütte entfernt, in der die
Leiche gefunden worden war. «Das ist doch gut, oder?»
«Sollte man meinen», stimmte er zu. «In der Hütte haben sie außerdem ein paar weitere Fingerabdrücke von Dexter gefunden.
Zum Beispiel auf einer eine Woche alten Kreditkartenquittung, die in Loomis’ Brieftasche steckte.»
Das alles legte die Vermutung nahe, dass Terry Loomis das Opfer und Willis Dexter sein Mörder war. Doch irgendetwas an Toms
Verhalten war komisch und sagte mir, dass es nicht so einfach war. «Ist er verhaftet worden?»
Tom nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem Tuch. Seine Lippen hatten sich zu einem seltsamen Lächeln gekräuselt. «Tja,
das ist der springende Punkt. Anscheinend ist Willis Dexter vor sechs Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen.»
«Da stimmt doch was nicht», sagte ich. Entweder konnten die Fingerabdrücke nicht von ihm stammen, oder auf der Todesurkunde
stand der falsche Name.
«Scheint mir auch so.» Tom setzte seine Brille wieder auf. «Deswegen werden wir gleich
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