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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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morgen früh seine Leiche exhumieren.»
     
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Du bist neun Jahre alt, als du das erste Mal eine Leiche siehst.
Man hat dich in deinen Sonntagsanzug gesteckt und führt
dich in ein Zimmer, in dem man ein paar Reihen Holzstühle
vor einem Sarg aufgestellt hat. Er steht auf Böcken, die mit
abgewetztem schwarzem Samt bedeckt sind. An einer Ecke
hat sich eine blutrote Borte gelöst. Du bist so davon abgelenkt
, wie sie sich zu einer nahezu perfekten Acht aufgerollt
hat, dass du schon fast vor dem Sarg stehst, ehe du das erste
Mal hineinschaust.
    Dein Großvater liegt darin. Er sieht   … anders aus. Sein
Gesicht wirkt irgendwie wächsern, und seine Wangen sind
eingefallen, als hätte er sein Gebiss vergessen. Seine Augen
sind geschlossen, aber auch mit ihnen stimmt etwas nicht.
    Du bleibst stehen und spürst einen vertrauten Druck
in der Brust. Eine Hand legt sich dir auf den Rücken und
schubst dich nach vorn.
    «Na geh schon, schau ihn dir an.»
    Du erkennst die Stimme deiner Tante. Aber niemand muss
dich dazu drängen, näher zu gehen. Als du schniefst, handelst
du dir eine Kopfnuss ein.
    «Taschentuch!», zischt deine Tante. Doch dieses Mal hast
du nicht deine fast ständig laufende Nase hochgezogen. Du
wolltest nur die anderen Gerüche wahrnehmen, die das Parfüm
und die Duftkerzen versuchen zu übertünchen.
    «Warum sind seine Augen zu?», fragst du.
    «Weil er bei Gott ist», antwortet deine Tante. «Sieht er
nicht friedlich aus? Als würde er schlafen.»
    Aber für dich sieht er nicht so aus, als würde er schlafen.
Was in dem Sarg liegt, sieht aus, als wäre es nie lebendig
gewesen. Du starrst es an und versuchst herauszufinden, was
genau anders daran ist, bis du mit fester Hand weggeschoben
wirst.
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Während der nächsten Jahre stellt sich bei der Erinnerung
an die Leiche deines Großvaters immer die gleiche Verwirrung
ein, der gleiche Druck in deiner Brust. Es ist eine deiner
einschneidendsten Erinnerungen. Aber erst mit siebzehn
verändert ein Ereignis dein Leben.
    Du sitzt in der Mittagspause auf einer Bank und liest. Das
Buch ist eine Übersetzung von Thomas von Aquins
Summa theologiae
, das du aus der Bücherei gestohlen hast. Es ist
natürlich ziemlich zäh und naiv, enthält aber ein paar interessante
Dinge. «Die Existenz einer Sache und ihr Wesen sind
getrennt.» Dir gefällt das, fast genauso wie Kierkegaards Behauptung
, dass «der Tod ein Licht ist, in welchem die großen
Leidenschaften, die guten wie die bösen, sichtbar werden».
Sie widersprechen sich alle gegenseitig, und kein Theologe
oder Philosoph, den du gelesen hast, kann vernünftige Antworten
vorweisen. Aber sie sind dem Kern näher gekommen
als die späteren Schriften von Camus und Sartre, die ihre
Ignoranz hinter einer Maske der Fiktion versteckt haben.
Diese Autoren hast du bereits hinter dir gelassen, und du
bist kurz davor, auch Thomas von Aquin und den Rest hinter
dir zu lassen. Im Grunde beginnst du zu begreifen, dass du
in keinem Buch die Antwort finden wirst. Aber was bleibt
dann?
    Zu Hause war in letzter Zeit Gejammer darüber laut geworden
, woher das Geld für dein College kommen sollte. Es
kümmert dich nicht. Irgendwoher wird es schon kommen.
Du hast seit Jahren gewusst, dass du etwas Besonderes bist,
dass du für etwas Großes bestimmt bist.
    Und so sollte es sein.
    Beim Lesen kaust und schluckst du mechanisch die eingepackten
Sandwiches, ohne Genuss oder ohne etwas zu schmecken
. Nahrung ist Treibstoff, mehr nicht. Die letzte Operation
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hat deine ständig tropfende Nase geheilt, die dir die gesamte
Kindheit zu schaffen gemacht hat, aber zu einem hohen
Preis. Dein Geruchssinn ist ausgelöscht, und abgesehen von
den schärfsten Gerichten schmeckt jetzt alles so dröge wie
Watte.
    Nachdem du das fade Sandwich aufgegessen hast, steckst
du das Buch weg. Du bist gerade von der Bank aufgestanden,
als du quietschende Bremsen hörst und dann einen dumpfen
Schlag. Als du aufschaust, siehst du eine Frau in der Luft.
Einen Augenblick scheint sie dort zu schweben, ehe sie mit
gespreizten Gliedern fast genau vor deinen Füßen zu Boden
kracht. Sie liegt verrenkt auf dem Rücken, das Gesicht dem
Himmel zugeneigt. Für einen kurzen Moment treffen sich
eure Blicke; ihre Augen sind weit aufgerissen und starren
dich verblüfft an. Du kannst in ihnen weder Schmerz noch
Angst entdecken, nur Überraschung. Und etwas anderes.
    Eine Erkenntnis.
    Dann trübt sich ihr Blick, und dir ist sofort klar, dass die
Kraft, die die Frau

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