Leichenblässe
doch er machte eine abwehrende Handbewegung.
«Alles in Ordnung.»
Aber es war deutlich zu sehen, dass es ihm schlechtging. Er streifte zitternd die Handschuhe ab, nahm ein Pillendöschen aus
seiner Tasche und steckte sich eine kleine Tablette unter die Zunge. Nach einem Augenblick begann er sich zu entspannen.
«Nitroglyzerin?», fragte ich.
Tom nickte und atmete wieder etwas gleichmäßiger. Nitroglyzerin wird bei akuten Anfällen von Angina Pectoris angewendet, denn
es wirkt, durch die Mundschleimhaut eingenommen, erweiternd auf die Gefäße. Er hatte wieder ein wenig Farbe bekommen, doch
unter dem grellen Licht des Autopsiesaals sah er noch immer erschöpft aus, als er die Pillen wegsteckte.
«Okay, wo waren wir?»
«Du wolltest gerade nach Hause gehen», sagte ich.
«Das ist nicht nötig. Mir geht’s wieder gut.»
Ich schaute ihn nur an.
«Du bist ja schlimmer als Mary», brummte er. «Na schön, ich räume nur noch auf …»
«Das kann ich machen. Geh nach Hause. Die Arbeit läuft dir nicht weg.»
Dass er sich fügte, war ein Zeichen dafür, wie erschöpft er war. Als ich ihm hinterherschaute, versetzte es mir einen Stich.
Er sah schwach und gebrechlich aus, aber es war auch ein anstrengender Tag gewesen.
Nachdem er gegessen und
die Nacht gut geschlafen hat, wird es ihm bessergehen.
Jedenfalls wollte ich daran glauben.
In Toms Autopsiesaal musste nicht viel aufgeräumt werden. |136| Nachdem ich damit fertig war, ging ich zurück in den anderen Saal, wo ich an der exhumierten Leiche gearbeitet hatte. Ich
wollte den Rest des Gewebes entfernen und sie dann über Nacht in Lösungsmittel einlegen, doch als ich gerade damit anfing,
wurde ich von einem Gähnen übermannt. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht gemerkt, wie müde auch ich war.Auf der Uhr an der
Wand sah ich, dass es nach sieben war, und mein Tag hatte schon vor Morgengrauen begonnen.
Noch eine Stunde. Das schaffst du noch.
Ich widmete mich den Überresten auf dem Untersuchungstisch. Es waren bereits Gewebeproben an das Labor geschickt worden, um
den Todeszeitpunkt genauer eingrenzen zu können, doch ich wusste auch ohne die Ergebnisse der Analysen, dass hier etwas nicht
stimmte.
Zwei Leichen, beide stärker verwest, als sie es sein sollten.
Darin konnte man ein Muster erkennen, so weit musste ich Irving recht geben. Allerdings konnte ich mir keinen Reim darauf
machen. Das helle Deckenlicht schimmerte matt auf dem zerkratzten Aluminiumtisch, als ich das Skalpell in die Hand nahm. Da
die Leiche schon teilweise vom Fleisch befreit war, glich sie einem schlecht zerlegten Schlachttier. Als ich mich hinabbeugte,
um mit der Arbeit zu beginnen, fiel mir im Augenwinkel etwas auf.
Irgendetwas steckte im Gehörgang.
Es war ein brauner, halbovaler Gegenstand, kaum größer als ein Reiskorn. Ich legte das Skalpell weg, nahm eine kleine Pinzette
und zog ihn vorsichtig aus der knorpeligen Gewebehöhle. Als ich die Pinzette ins Licht hielt, um ihn zu untersuchen, erkannte
ich mit wachsender Überraschung, was es war.
Wie zum Teufel …?
Es dauerte eine Weile, ehe ich merkte, dass mein Herz vor Aufregung raste.
|137| Als ich nach einem Probenglas suchte, klopfte es plötzlich an der Tür. Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Paul kam herein.
«Ich störe dich doch nicht, oder?»
«Überhaupt nicht.»
Mit professionellem Auge betrachtete er die vom Gewebe befreite Leiche. Er hatte bestimmt schon schlimmere gesehen, genau
wie ich. Manchmal erkennt man erst an der Reaktion der anderen – oder an ihrer fehlenden Reaktion –, wie sehr man sich an die grausamsten Anblicke gewöhnt hat.
«Ich habe gerade Tom gesehen. Er hat gesagt, dass du noch arbeitest, deswegen wollte ich mal schauen, wie du vorankommst.»
«Wir sind immer noch hinter dem Zeitplan. Weißt du zufällig, wo die Probengläser sind?»
«Klar.» Er ging zu einem Schrank. «Tom sah nicht gut aus. Ist alles in Ordnung mit ihm?»
Ich war mir nicht sicher, was ich sagen sollte oder ob Paul von Toms Leiden wusste. Aber er hatte mein Zögern offenbar verstanden.
«Keine Sorge, ich weiß von seiner Angina Pectoris. Hatte er wieder einen Anfall?»
«Keinen schlimmen, aber ich habe ihn überredet, nach Hause zu gehen», sagte ich, erleichtert, dass ich mich nicht verstellen
musste.
«Ich bin froh, dass er mal auf jemanden hört. Normalerweise können ihn keine zehn Pferde wegkriegen.» Paul reichte mir ein
Glas. «Was ist das?»
Ich steckte das
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