Leichenblässe
kleine braune Objekt hinein und hielt es hoch. «Eine leere Puppenhülle. Von einer Schmeißfliege, würde ich
sagen. Sie muss in dem Gehörgang geklemmt haben, als wir die Leiche abgespült haben.»
|138| Zuerst schaute Paul die Hülle gleichgültig an, dann sah ich, wie ihm etwas klar wurde. Er starrte von dem Glas zur Leiche.
«Diese Puppenhülle stammt von der Leiche, die ihr heute Morgen exhumiert habt?»
«Richtig.»
Er pfiff durch die Zähne und nahm mir das Glas ab. «Und wie zum Teufel ist sie in den Sarg gelangt?»
Das hatte ich mich auch gefragt. Schmeißfliegen sind in unserer Branche allgegenwärtig, denn sie legen ihre Eier in jede Körperöffnung.
Sie können ihren Weg fast überallhin finden, sowohl im Freien wie in Innenräumen.
Allerdings hatte ich noch nie gehört, dass sie ihre Eier zwei Meter unter der Erde legen.
Ich schraubte den Deckel auf das Glas. «Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, ist, dass die Leiche eine Weile im Freien
gelegen haben muss, bevor sie begraben wurde. Hat dir Tom von der Verwesung erzählt?»
«Dass sie schlimmer ist, als sie nach sechs Monaten hätte sein sollen?», erwiderte er nickend. «Die Hülle ist offen, die Leiche
muss also mindestens zehn oder elf Tage im Freien gelegen haben, damit die Fliege schlüpfen konnte. Und wenn wir sechs Monate
zurückrechnen, muss der Tod irgendwann im letzten Herbst eingetreten sein. Da war es warm und feucht, die Leiche wird also
nicht so schnell mumifiziert sein wie im Sommer.»
Langsam ergab die Sache einen Sinn. Bevor die Leiche in den Sarg gelegt worden war, hatte man sie entweder zufällig oder absichtlich
verwesen lassen. Das würde jedenfalls ihren Zustand erklären. Paul schwieg eine Weile. Ich wusste, was er gerade dachte, und
als er mich anschaute, sah ich, dass er genauso neugierig war wie ich.
|139| «Ist der Sarg noch hier?»
Wir verließen den Autopsiesaal und gingen in den Lagerraum. Der Sarg befand sich in dem Aluminiumcontainer und wartete darauf,
von den Beamten der Spurensicherung des TBI abgeholt zu werden. Als wir ihn öffneten, strömte uns der auch jetzt noch schlimme
Verwesungsgeruch entgegen. Im Sarg lag das zusammengeknüllte, schmutzige und stinkende Leichentuch.
Paul nahm eine Pinzette und faltete es auseinander.
Bisher hatte die Leiche unsere Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und nicht das Tuch, mit dem sie bedeckt war. Jetzt, da
wir wussten, wonach wir suchen mussten, wurden wir schnell fündig. Durch die klebrige Sargflüssigkeit waren sie zwar schwer
zu erkennen, aber in dem Baumwolltuch lagen weitere Puppenhüllen. Manche waren aufgebrochen und leer, wie diejenige, die ich
gefunden hatte, aus anderen waren die Puppen jedoch noch nicht geschlüpft. Es waren keine Larven zu sehen, aber nach sechs
Monaten unter der Erde hätten sich ihre weichen Körper auch längst aufgelöst.
«Damit haben wir Klarheit», sagte Paul. «Eine einzelne Hülle könnte man sich noch erklären, aber nicht so viele. Die Leiche
muss schon ziemlich verwest gewesen sein, bevor sie in den Sarg gelegt worden ist.»
Er griff nach dem Sargdeckel, doch ich hielt ihn zurück. «Was ist das?»
In den Falten des Tuchs war mir etwas anderes aufgefallen. Ich nahm die Pinzette von Paul und zog es vorsichtig heraus.
«Was ist das? Eine Art Grille?», fragte er.
«Ich glaube, nein.»
Es war ein Insekt, so viel stand fest. Es war etwa drei Zentimeter lang und schmal und hatte einen langen, segmentierten Rückenschild.
Teilweise war er zerdrückt worden, und die |140| Beine hatten sich im Tod zusammengekrümmt, was die längliche Tropfenform des Körpers betonte.
Ich legte es auf das Tuch. Auf dem weißen Hintergrund wirkte das Insekt erst recht fehl am Platz und fremd.
Paul schaute es sich genauer an. «So etwas habe ich noch nie gesehen. Du?»
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte auch keine Ahnung, was es war.
Ich wusste nur, dass es nicht dort hätte sein dürfen.
Nachdem Paul gegangen war, arbeitete ich noch zwei Stunden weiter. Durch die Entdeckung des unbekannten Insekts war meine
Müdigkeit wie weggefegt, und so machte ich weiter, bis die exhumierten Überreste frei von jedem Gewebe waren und in Lösungsmittel
eingeweicht werden konnten. Als ich das Leichenschauhaus verließ, war ich noch immer voller Tatendrang. Paul und ich hatten
beschlossen, dass es zu spät war, um Tom noch an diesem Abend von unserer neuen Entdeckung zu berichten, aber ich war überzeugt,
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