Leichenblässe
wieder auf.
Sein Klopfen hallte durch den morgendlichen Wald.
Als ich aufwachte, fühlte ich mich so gut wie seit Monaten nicht mehr. Mein Schlaf war endlich einmal ungestört gewesen, und
das Bett sah aus, als hätte ich mich die ganze Nacht kaum gerührt. Ich streckte mich und machte dann meine morgendlichen Übungen.
Normalerweise waren sie ziemlich anstrengend, doch dieses Mal schienen sie gar nicht so schlimm zu sein.
Nachdem ich geduscht hatte, schaltete ich den Fernseher ein und suchte beim Anziehen nach einem internationalen Nachrichtenkanal.
Ich ging die Programme durch und ließ den Schwall aus Werbung und banalem Geplapper an mir |147| vorbeiziehen. Erst als ich vom regionalen Nachrichtensender weitergeschaltet hatte, wurde mir klar, was ich gerade gesehen
hatte.
Ich schaltete zurück, und schon erschien wieder Irvings Gesicht mit dem ordentlich rasierten Bart auf dem Bildschirm. Mit
betont nachdenklicher Miene klärte er eine Interviewerin, die die aufgemalte Schönheit einer Schaufensterpuppe hatte, auf.
«… natürlich. Der Begriff ‹Serienmörder› ist furchtbar
überstrapaziert. Im Gegensatz zu einem Mörder, der nur
mehrere Opfer tötet, ist ein Serienmörder ein Räuber, ganz
einfach. Es sind die Tiger der modernen Gesellschaft, die
unbemerkt im Steppengras lauern. Wenn man mit so vielen
Gewalttätern zu tun gehabt hat wie ich, lernt man, die Unterschiede
zu erkennen.»
«Um Gottes willen», stöhnte ich. Mir fiel ein, dass Irving am vergangenen Tag so spät ins Leichenschauhaus gekommen war, weil
er ein Fernsehinterview aufgezeichnet hatte. Gestern hatte ich mir nicht viel dabei gedacht. Jetzt trübte sich beim Zuschauen
meine Laune.
«Aber stimmt es, dass Sie nach der Entdeckung einer verstümmelten
Leiche in einer Ferienhütte in den Smoky Mountains
vom TBI herangezogen wurden, um ein Täterprofil zu
erstellen?»,
fuhr die Interviewerin unbeirrt fort.
«Und dass
in Zusammenhang mit diesem Fall auf einem Friedhof in
Knoxville eine Leiche exhumiert worden ist?»
Irving lächelte bedauernd.
«Über laufende Ermittlungen
darf ich leider keine Auskunft geben.»
Die Interviewerin nickte verständnisvoll, wobei sich ihr blondes Haar keinen Millimeter bewegte.
«Aber da Sie
Experte darin sind, Profile von Serienmördern zu erstellen,
scheint das TBI doch zu befürchten, es mit einem solchen zu
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tun zu haben, oder? Glaubt man, dass dies nur der Anfang
einer Mordserie ist?»
«Nochmals, ich darf dazu leider wirklich nichts sagen.
Obwohl ich sicher bin, dass die Leute ihre eigenen Schlüsse
ziehen werden»,
sagte Irving unschuldig.
Das Lächeln der Interviewerin zeigte zwischen blutroten Lippen perfekte weiße Zähne. Sie schlug die Beine übereinander.
«Können Sie mir dann wenigstens sagen, ob Sie
schon ein Profil des Mörders erstellt haben?»
«Also, Stephanie, Sie wissen, dass ich das nicht darf»,
entgegnete Irving mit einem weltmännischen Lächeln.
«Was ich
jedoch sagen kann, ist, dass alle Serienmörder, denen ich begegnet
bin – und das waren einige, glauben Sie mir –, einen
gemeinsamen Wesenszug hatten: ihre Gewöhnlichkeit.»
Die Interviewerin neigte den Kopf, als hätte sie sich verhört.
«Entschuldigen Sie, sagten Sie gerade, dass Serienmörder
gewöhnlich
sind?»
Ihre Überraschung wirkte so gekünstelt, als hätte sie im Voraus gewusst, was er sagen würde.
«Das ist richtig. Es liegt auf der Hand, dass sie sich selbst
für das Gegenteil halten. Doch in Wahrheit ist jeder Serienmörder
ein Nichts, sonst wäre er keiner geworden. Vergessen
Sie die glamourösen Psychopathen aus Romanen oder Filmen
, in der wirklichen Welt sind diese Individuen traurige
Außenseiter, für die das Töten der einzige Lebensantrieb
geworden ist. Gerissen, ja. Gefährlich, ganz bestimmt. Aber
ihr einziges Kennzeichen ist, dass sie in der Masse nicht auffallen
. Deshalb ist es so schwierig, sie zu erkennen.»
«Aber bestimmt ist es deshalb auch schwerer, sie zu fassen
, nicht wahr?»
Irvings Lächeln ging in ein wölfisches Grinsen über.
«Das
ist es, was meine Arbeit so reizvoll macht.»
Das Interview endete, der Sender schaltete zurück ins |149| Studio zu einer Nachrichtensprecherin.
«Das war der Verhaltensforscher
Alex Irving, Autor des Bestsellers ‹Zerbrochene
Egos›, mit dem gestern …»
Ich machte den Fernseher aus. «Mit seinem Ego stimmt alles», murmelte ich und warf die Fernbedienung zur Seite. Für das Interview
hatte es keine
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