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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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über das ganze Gesicht. Er bückte sich, um den Inhalt auf Augenhöhe zu betrachten.
     «Na, das ist ja wirklich eine Überraschung!»
    «Du weißt, was das ist?», fragte Tom.
    «Aber ja. Ein höchst interessantes Fundstück zudem. Es gibt nur einen anderen Teil von Tennessee, wo man diese Spezies von
     Odonata nachgewiesen hat. In dieser Gegend sind sie schon gesichtet worden, aber so einer Schönheit begegnet man nicht jeden
     Tag.»
    «Freut mich zu hören», sagte Tom. «Kannst du uns auch sagen, was es ist?»
    Talbot grinste. «Odonata sind Libellen. Das hier ist eine Libellennymphe. Eine Sumpflibelle, eine der größten Spezies in Nordamerika.
     In den meisten östlichen Staaten sind sie weit verbreitet, in Tennessee kommen sie allerdings nicht so häufig vor. Ich zeige
     es dir.»
    Er wühlte in seiner Aktentasche herum und zog ein dickes |155| altes Lehrbuch mit Eselsohren hervor. Leise summend legte er es auf die Arbeitsplatte und blätterte durch die Seiten.
    Dann hielt er inne und tippte auf eine Seite. «Da haben wir sie.
Epiaeschna heros
, die Sumpflibelle. Nomadisch, wird vor allem im Sommer und Herbst an bewaldeten Straßenrändern und Teichen angetroffen, die
     ausgewachsenen Tiere können aber in wärmeren Regionen auch im Frühjahr Eier legen.»
    Ein Foto auf der Seite zeigte ein großes Insekt, das wie ein Miniaturhubschrauber geformt war. Es hatte die Doppelflügel und
     den stromlinienförmigen Körper der Libellen, die ich von zu Hause kannte, aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf.
     Dieses Insekt war so lang wie mein Finger und beinahe genauso dick und hatte einen braunen Körper mit hellgrünen Tigerstreifen.
     Am meisten fielen jedoch die riesigen und kugelförmigen, blau leuchtenden Augen auf.
    «Ich kenne Sammler in Tennessee, die ihr letztes Hemd dafür geben würden, einmal eine ausgewachsene Sumpflibelle zu sehen»,
     schwärmte Talbot. «Schau dir nur diese Augen an! Unglaublich, oder? An einem sonnigen Tag kann man sie aus einer Meile Entfernung
     erkennen.»
    Tom hatte sich das Buch angeschaut. «Wir haben also eine Nymphe von dieser Libelle gefunden?»
    «Oder eine Najade, wenn es dir lieber ist.» Talbot faltete seine Hände und begann zu dozieren. «Libellen haben kein Larvenstadium.
     Sie legen ihre Eier in stehenden oder langsam fließenden Gewässern, und wenn die Nymphen schlüpfen, findet ihr Leben vollständig
     unter Wasser statt. Auf jeden Fall so lange, bis sie voll entwickelt sind. Dann krabbeln sie zur letzten Verwandlung auf eine
     Pflanze, zum Beispiel einen Grashalm.»
    «Aber Libellen werden normalerweise nicht von Aas angezogen, oder?», fragte ich.
    |156| «Du lieber Gott, nein.» Er klang bestürzt. «Es sind Räuber. Manchmal werden sie Moskitofalken genannt, denn das ist ihre Hauptnahrung.
     Deswegen sieht man sie normalerweise in der Nähe von Gewässern, obwohl die Sumpflibelle auch eine Vorliebe für geflügelte
     Termiten hat. Dieses Exemplar wurde in einem Sarg gefunden, hast du gesagt?»
    «Richtig. Wir glauben, dass sie wahrscheinlich gemeinsam mit der Leiche vergraben worden ist.»
    «Dann würde ich sagen, dass die Leiche vorher direkt an einem Gewässer, an einem See oder Teich gelegen hat.» Talbot nahm
     das Glas. «Als dieser kleine Kerl zur Metamorphose aus dem Wasser gekrabbelt ist, wurde er offenbar mit der Leiche weggeschafft.
     Selbst wenn er nicht zerdrückt worden wäre, hätten ihn die Kälte und die Dunkelheit unter der Erde getötet.»
    «Gibt es bestimmte Gegenden, wo man sicher davon ausgehen kann, diese Spezies zu finden?», fragte Tom.
    «Jedenfalls nicht an schnell fließenden Strömen oder Flüssen, aber in fast jedem Wald, wo es ein stehendes Gewässer gibt.
     Sie werden nicht umsonst Sumpflibellen genannt.» Talbot schaute auf seine Uhr und steckte dann das Buch wieder in die Aktentasche.
     «Tut mir leid, ich muss los. Wenn du ein lebendes Exemplar davon findest, sag mir unbedingt Bescheid.»
    Tom brachte Talbot hinaus. Wenige Minuten später kehrte er mit nachdenklicher Miene zurück.
    «Wenigstens wissen wir jetzt, was wir gefunden haben», sagte ich. «Und wenn die Leiche neben einem Teich oder irgendeinem
     anderen stehenden Gewässer gelegen hat, hat Gardner einen neuen Anhaltspunkt.»
    Tom schien nicht zugehört zu haben. Er nahm den Schädel und untersuchte ihn, aber so abwesend, als wäre ihm gar |157| nicht bewusst, was er tat. Selbst als ich ihm von dem unbeschädigten Zungenbein und den rosaroten Zähnen

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