Leichenblässe
Wochen dauern», bemerkte Tom.
«Wem sagst du das? In solchen Momenten wünschte ich, wir würden noch eine Blutgruppenbestimmung machen. Dann wüssten wir wenigstens,
ob das Blut zur gleichen Gruppe gehört wie seins. Aber das ist eben der Fortschritt.» Man konnte ihm deutlich ansehen, was
er davon hielt. «Ich werde im Labor anrufen. Die Tests haben bereits oberste Priorität, aber vielleicht kann die Sache noch
etwas beschleunigt werden.»
Er klang nicht sehr hoffnungsvoll. Ein DN A-Test war zwar eine wesentlich genauere Methode zur Feststellung von Übereinstimmungen und zur Identifizierung als die alte Blutgruppenbestimmung,
sie benötigte aber frustrierend viel Zeit. Es war auf beiden Seiten des Atlantiks das Gleiche. Ich hatte mehr als einen englischen
Polizeibeamten sich darüber |169| beklagen hören, dass die Laborarbeit viel länger dauere, als es in Filmen dargestellt wurde. Es war nun einmal so, dass die
Tests in der realen Welt, unabhängig davon, ob sie oberste Priorität hatten oder nicht, Monate dauern konnten.
Tom begutachtete die Gläser seiner Brille und polierte sie dann weiter. «Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Dan.
Müssen wir uns Sorgen machen?»
Gardner hob genervt die Arme. «Was willst du hören,Tom? Ich kann die Gedanken dieses Typen nicht lesen, ich habe keine Ahnung,
was er als Nächstes tun wird. Ich wünschte, ich wüsste es. Aber selbst wenn er tatsächlich für Irvings Verschwinden verantwortlich
ist, heißt das noch lange nicht, dass jeder, der an dem Fall arbeitet, in Gefahr ist. Es tut mir furchtbar leid für Irving,
aber seien wir ehrlich: Der Mann hat um Öffentlichkeit gebuhlt. Mit seinem Fernsehauftritt könnte er alle möglichen Psychos
gegen sich aufgebracht haben, nicht nur diesen.»
«Dann sollen wir also weitermachen, als wenn nichts geschehen wäre?»
«Im vernünftigen Rahmen, ja. Wenn ich der Meinung wäre, dass eine echte Gefahr besteht, würde ich jeden von euch rund um die
Uhr bewachen lassen, das kannst du mir glauben. Aber vorausgesetzt, ihr trefft vernünftige Vorsichtsmaßnahmen, bin ich mir
sicher, dass es keinen Grund zur Sorge gibt.»
«‹Vernünftige Vorsichtsmaßnahmen›?», wiederholte Tom ungehalten. «Was soll denn das bedeuten? Keine Süßigkeiten von Fremden
nehmen?»
«Es bedeutet, dass ihr nicht alleine mit Hunden durch den Wald spazieren sollt», entgegnete Gardner. «Lauft nachts nicht allein
durch dunkle Straßen. Komm schon, Tom, muss ich es in allen Einzelheiten erläutern?»
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Nein, musst du nicht
. Ich erinnerte mich an die Angst, die mir der Wachmann in der vergangenen Nacht eingejagt hatte. Vielleicht sollte ich in
Zukunft an einem weniger verlassenen Ort parken.
«Na schön. Treffen wir also vernünftige Vorsichtsmaßnahmen», erklärte sich Tom einverstanden, obwohl er nicht gerade glücklich
klang. Er setzte seine Brille wieder auf. «Und wie stehen deiner Meinung nach die Chancen, Irving zu finden?»
«Wir suchen ihn mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln», sagte Gardner mit gewohnter Zurückhaltung.
Tom beließ es dabei. Wir wussten alle genau, wie Irvings Chancen standen. «Wirst du einen neuen Profiler hinzuziehen?»
«Darüber wird nachgedacht», sagte Gardner vorsichtig. «Wir berücksichtigen weiterhin Irvings Profil des Mörders, suchen aber
gleichzeitig nach alternativen Sichtweisen. Und Diane hat eine interessante Theorie entwickelt.»
Jacobsens ansonsten ungerührte Miene bekam Farbe. Der Errötungsreflex ist schwer zu kontrollieren. Einen Menschen, der eine
derartige äußere Kontrolle kultiviert hatte, musste das rasend machen, konnte ich mir vorstellen.
«Bei allem nötigen Respekt für Professor Irving, aber ich glaube nicht, dass die Morde sexuell motiviert sind oder dass der
Mörder homosexuell sein muss», sagte sie. «Möglicherweise hat sich Professor Irving durch die Tatsache ablenken lassen, dass
beide Opfer männlich und nackt waren.»
Diese Meinung hatte sie bereits vertreten, als sich der Profiler die Leiche von Terry Loomis in der Hütte angeschaut hatte,
und war, weil sie es gewagt hatte, ihm zu widersprechen, in die Schranken gewiesen worden. Irving zuliebe hoffte ich nun,
dass sie recht hatte.
|171| «Und wie würden Sie die Morde erklären?», fragte Tom.
«Das kann ich noch nicht. Aber die Taten des Mörders lassen darauf schließen, dass er nicht aus einem sexuellen Antrieb handelt.»
Sie sprach nun zu Tom wie zu
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