Leichenblässe
und gab es ihm zurück. «Trotzdem verstehe ich nicht, wie das sein kann.»
«Ich auch nicht.» Er schaute stirnrunzelnd auf die Berechnungen, als würden sie ihn beleidigen. «Selbst wenn man davon ausgeht,
dass der Heizkörper die ganze Zeit an war, habe ich noch keine Leiche gesehen, die nach fünf Tagen in diesem Ausmaß verwest
war. Es haben verpuppte Larven draufgelegen, Herrgott nochmal!»
Die Larven der Schmeißfliege brauchen sechs oder sieben Tage bis zur Verpuppung. Selbst wenn sowohl Tom als auch ich uns bei
der Schätzung der Todeszeit getäuscht hatten, hätten sie dieses Entwicklungsstadium erst nach mindestens einem weiteren Tag
erreichen dürfen.
«Es gibt nur eine Möglichkeit, wie sie dorthin gelangt sind», sagte ich.
Tom lächelte. «Du hast dir also auch schon deine Gedanken gemacht. Nur zu.»
«Die Maden müssen absichtlich ausgesetzt worden sein.» Das war die einzige Erklärung für den Zustand von Terry Loomis’ Leiche.
So hätten die Larven nicht erst aus den Eiern schlüpfen müssen, sondern wären vollständig entwickelt gewesen und hätten sich
sofort an die Zersetzungsarbeit machen können. «Dadurch wäre der Verwesungsprozess um einiges beschleunigt worden, mindestens
um zwölf bis vierundzwanzig |177| Stunden. Und bei den vielen offenen Wunden der Leiche hätte es wahrscheinlich gereicht.»
Er nickte. «Erst recht, da die Heizung voll aufgedreht war. Und das würde auch erklären, warum so viele Larven an der Leiche
waren, obwohl Türen und Fenster der Hütte verschlossen waren. Offenbar wollte der Täter der Natur auf die Sprünge helfen.
Sehr clever, auch wenn ich nicht ganz verstehe, was er damit erreichen wollte. Abgesehen davon, uns ein paar Tage im Dunkeln
tappen zu lassen.»
Darüber hatte ich auch schon nachgedacht. «Vielleicht hat ihm das gereicht. Erinnerst du dich daran, was Diane Jacobsen gesagt
hat? Der Täter will etwas beweisen. Vielleicht wollte er damit nur zeigen, wie gerissen er ist.»
«Könnte sein.» Tom lächelte mich nachdenklich an. «Da fragt man sich allerdings, woher er sich so gut damit auskennt, oder?»,
hatte er gesagt.
Es war ein verstörender Gedanke.
Ich grübelte noch darüber nach, als Tom in den Wintergarten kam. Er war frisch rasiert und hatte sich umgezogen und eine so
gesunde Gesichtsfarbe, dass sie nur von einer heißen Dusche herrühren konnte.
«Entschuldige. Unser monatliches Pflichttelefonat», sagte er. Die Verbitterung in seiner Stimme überraschte mich. Er lächelte,
als wäre es ihm selbst aufgefallen, und ließ sich seufzend auf einem Stuhl nieder. «Hat Mary dir was zu trinken angeboten?»
Ich hielt mein Bier hoch. «Ja, danke.»
Er nickte, schien aber immer noch abgelenkt zu sein.
«Alles in Ordnung?», fragte ich.
«Ja.» Er zupfte gereizt an der Stuhllehne. «Es ist nur wegen Robert. Er wollte uns eigentlich in ein paar Wochen besuchen.
Jetzt hat er anscheinend doch keine Zeit. Mir ist es |178| einigermaßen egal, aber Mary hat sich darauf gefreut, ihn zu sehen, und jetzt … Ach, was soll’s. Sei froh, dass du keine Kinder hast.»
Er hatte eine witzige Bemerkung machen wollen, fing aber an zu stammeln, als er begriff, was er gesagt hatte. So ein Fauxpas
konnte passieren, Tom sah dennoch erleichtert aus, als das Klingeln an der Tür die Ankunft von Sam und Paul verkündete.
«Entschuldigt die Verspätung», sagte Paul, als Mary die beiden in den Wintergarten führte. «Ich hatte auf dem Nachhauseweg
einen platten Reifen und brauchte eine Ewigkeit, um das verfluchte Öl von meinen Händen zu schrubben.»
«Jetzt seid ihr ja hier. Samantha, du siehst großartig aus», sagte Tom und ging zu ihr, um sie zu küssen. «Wie geht es dir?»
Etwas unbeholfen wegen des dicken Bauchs, ließ sich Sam auf einem Stuhl mit hoher Lehne nieder. Sie hatte das blonde Haar
zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und wirkte gesund und munter. «Ich werde ungeduldig. Wenn Junior sich nicht beeilt,
werden wir bald mal ein Wörtchen miteinander reden müssen.»
«Ehe du dich’s versiehst, ist er in der Schule», sagte Tom lachend.
Seine Stimmung hatte sich mit der Ankunft der beiden aufgeheitert, und als wir am Esstisch Platz nahmen, war die Atmosphäre
locker und entspannt. Das Essen war einfach und unkompliziert – Lachs aus dem Ofen mit Pellkartoffeln und Salat –, aber Mary war eine so gute Köchin, dass es köstlich und speziell schmeckte. Als sie den Nachtisch auftrug, einen
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