Leichenblässe
sicher, weil sie stark angeknabbert sind. Dann haben wir einen Schädel gefunden,
sodass man davon ausgehen kann, dass sie zusammengehören. Aber nach der Tri-State-Sache wollten wir kein Risiko eingehen.»
Das konnte ich verstehen. Der Tri-State-Friedhof in Georgia war 2002 weltweit in die Schlagzeilen geraten, nachdem Inspektoren
auf dem Gelände einen menschlichen Schädel gefunden hatten. Wie sich herausstellte, war das nur die Spitze des Eisbergs gewesen.
Aus Gründen, die nie zufriedenstellend |190| geklärt werden konnten, hatte der Besitzer viele der Leichen, die er eigentlich hätte einäschern sollen, aufbewahrt. Über
dreihundert Leichen waren in winzigen Grüften gelagert oder im angrenzenden Wald aufeinandergestapelt worden. Einige hatte
man sogar im Haus des Besitzers gefunden. Aber so schlimm dieser Fall in Tri-State auch gewesen war, es gab einen wesentlichen
Unterschied zu der jetzigen Situation.
Keines der Opfer war ermordet worden.
Gardner führte uns an den Waldrand, wo ein Klapptisch mit Masken und Schutzkleidung stand. Ein paar Meter weiter bildeten
die Kiefern eine fast massive Wand.
Der TB I-Agent schaute Tom skeptisch an, als würde ihm erst jetzt bewusst werden, was er von ihm verlangte. «Bist du dir sicher, dass du
dazu bereit bist?»
«Ich habe schon Schlimmeres erlebt.» Tom hatte bereits eine Packung Einwegoveralls geöffnet. Gardner schien nicht überzeugt
zu sein, aber als er merkte, dass ich ihn anschaute, verschwanden die Sorgenfalten aus seinem Gesicht.
«Na schön, dann lasse ich dich machen.»
Ich wartete, bis er zurück zur Leichenhalle gegangen war. «Er hat recht, Tom. Dadrinnen wird es ungemütlich werden.»
«Ich komme schon zurecht.»
Bei seiner Sturheit verschwendete ich nur meine Zeit. Ich schlüpfte selbst in einen Overall und zog Handschuhe und Überschuhe
an. Nachdem Tom fertig war, gingen wir in den Wald.
Sofort umgab uns eine Stille, als wären wir von der Außenwelt abgeschnitten worden. Und doch hörte man etwas: Um uns herum
säuselten die Kiefernnadeln, ein unheimliches Geräusch hier in Friedhofsnähe, als ob die Toten untereinander |191| wispern würden. Auf dem Boden hatten die Nadeln einen dicken, mit herabgefallenen Zapfen bestreuten Teppich gebildet. Der
reine Duft der Kiefern drang durch meine Maske und war nach dem Schmutz des Bestattungsinstituts eine willkommene Abwechslung.
Aber sie hielt nicht lange an. Da zwischen den Bäumen kein Windhauch wehte, war die Luft stickig und heiß. Als wir gebeugt
unter den niedrigen Ästen auf die weißgekleideten Agenten zugingen, begann ich fast augenblicklich zu schwitzen.
«Und, was habt ihr gefunden?», fragte Tom und versuchte, seine Atemlosigkeit zu verbergen, während sie Platz für uns machten.
In den aufgeblähten Schutzanzügen und mit den Masken sahen die Beamten alle gleich aus, aber ich erkannte den großen Mann
aus der Berghütte wieder.
Lenny? Nein, Jerry
. Was man von seinem Gesicht sehen konnte, war erhitzt und verschwitzt, sein Overall war mit Kiefernnadeln und Borke bedeckt.
«Mein Gott, was für ein Tag», sagte er keuchend, als er sich aufrichtete. «Wir haben einen Schädel und die Überreste eines
Brustkorbs gefunden, außerdem ein paar andere Knochen. Sie liegen ziemlich weit verstreut, selbst die größeren. Und diese
gottverdammten Bäume sind wirklich zum Kotzen. Etwas weiter dahinten ist ein Zaun, aber er ist so eingefallen, dass jeder
hier reinkann. Vierbeiner und Zweibeiner.»
«Irgendwelche Kleidungsstücke?»
«Nee, aber wir haben so eine Art Laken gefunden. Könnte das Leichentuch gewesen sein.»
Wir ließen ihn allein und bahnten uns einen Weg zu den Funden. Einem ungepflegten Golfplatz gleich war der Waldboden mit kleinen
Fähnchen übersät, die jede einzelne Entdeckung |192| markierten. Das erste, das wir sahen, steckte neben den Überresten eines Beckenknochens. Er lag unter einem Baum, sodass wir
uns tief bücken und fast über den Nadelteppich kriechen mussten, um dranzukommen. Ich schaute zu Tom und hoffte, dass es nicht
zu viel für ihn war, doch da die Maske sein Gesicht verdeckte, konnte ich seine Miene nur schwer lesen.
Der Beckenknochen war so stark angeknabbert, dass man nicht sagen konnte, ob er von einem Mann oder von einer Frau stammte,
das danebenliegende Femur bot aber bessere Anhaltspunkte. Obwohl beide Enden des großen Oberschenkelknochens von Tierzähnen
angenagt waren, konnte man an der Länge
Weitere Kostenlose Bücher