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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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deutlich erkennen, dass es der eines Mannes war.
    «Ziemlich groß», sagte Tom und hockte sich hin, um ihn zu untersuchen. «Was würdest du sagen, wie groß die Person war?»
    «Gut über eins achtzig. Wie groß war Willis Dexter?»
    «Eins sechsundachtzig.» Trotz der Maske konnte ich sehen, wie Tom lächelte. Offenbar dachte er das Gleiche wie ich. Es schien
     so auszusehen, als hätten wir den Mann gefunden, der eigentlich in Steeple Hill hätte beerdigt sein sollen. «Na schön, schauen
     wir mal, was wir sonst noch haben.»
    Als wir uns durch die Bäume zwängten, streiften wir gegen die Zweige und wurden von Nadeln berieselt. Obwohl wir nur schwer
     vorankamen, ließ sich Tom keine Schwäche anmerken. Mir lief der Schweiß das Gesicht hinab, außerdem bekam ich langsam Krämpfe,
     weil wir die ganze Zeit gebeugt gehen mussten. Der Kiefernduft widerte mich mittlerweile an, und in dem engen Overall begann
     es mich überall zu jucken.
    In einiger Entfernung von dem Beckenknochen lagen die Reste eines Tuchs. Die schmutzigen und zerrissenen Stoffteile waren
     mit einem andersfarbigen Fähnchen markiert, |193| um sie von den Leichenteilen zu unterscheiden. Unweit davon, teilweise mit Kiefernnadeln bedeckt, lag ein Brustkorb. Ein paar
     Ameisen huschten darüber und suchten nach den letzten Fleischresten, aber es war nur noch wenig übrig. Die Knochen waren schon
     längst abgenagt worden, und das Brustbein sowie mehrere kleinere Rippen fehlten.
    «Sieht so aus, als wäre die Leiche hier abgelegt worden», meinte Tom, während ich Fotos machte. «Die Verteilung der Knochen
     erscheint mir ziemlich typisch. Die Leiche ist nicht vorher zerstückelt worden, das haben Tiere gemacht, würde ich sagen.»
    In der Natur wird nichts verschwendet, deshalb wird eine im Freien liegende Leiche schnell zur Nahrungsquelle der in der Umgebung
     lebenden Tiere. Hunde, Füchse, Vögel, Nager – in manchen Teilen der Vereinigten Staaten auch Bären – nehmen an dem Festmahl
     teil, um abzutrennen und mitzunehmen, was sie können. Da der massige Torso, wenn überhaupt, nur von den größten Aasfressern
     mitgenommen werden kann, wird er meistens an Ort und Stelle abgenagt. Aus diesem Grund markiert der Brustkorb normalerweise
     die Stelle, an der die Leiche ursprünglich lag.
    Tom begutachtete das Ende einer der Rippen. Er winkte mich heran. «Siehst du das? Sägespuren.»
    Wie die meisten anderen Knochen war die Rippe stark angeknabbert worden. Doch zwischen den Einkerbungen, die von Zähnen stammten,
     waren parallele Linien zu sehen, schmale Schrammen, die quer über das Ende des Knochens verliefen.
    «Sieht nach einer Bügelsäge aus. Wie man sie bei einer Autopsie benutzt», sagte ich. Bei einer Sektion ist es üblich, den
     Brustkorb auf beiden Seiten des Brustbeins aufzuschneiden, damit er zurückgeklappt werden kann, um Zugriff auf |194| die darunterliegenden Organe zu haben. Manchmal wird dafür ein Knochenschneider benutzt, häufig aber ist eine elektrische
     Säge schneller.
    Und eine solche würde Spuren wie diese erzeugen.
    «Sieht immer mehr danach aus, als hätten wir Willis Dexter gefunden, oder?», sagte Tom. Er stemmte sich hoch. «Männlich, die
     Größe passt, dazu die Autopsieschnitte in den Rippen. Und Dexters Kleidung ist bei dem Autounfall verbrannt. Da er keine Familie
     hatte, wird man die Leiche bestimmt in dem Tuch gelassen haben, in dem sie aus der Leichenhalle kam. Zeitlich kommt es auch
     hin. Auf den Knochen ist noch kein Moos, sie liegen also noch kein Jahr hier. Das bedeutet   …»
    Er rang plötzlich nach Luft, krümmte sich zusammen und fasste sich an die Brust. Ich zog ihm die Maske vom Gesicht und musste
     meine Bestürzung verbergen, als ich sah, wie kreidebleich er war.
    «Wo sind deine Tabletten?»
    Sein Mund hatte sich zu einer Grimasse verzogen. «Seitentasche   …»
    Ich riss seinen Overall auf und verfluchte mich.
Du hättest
ihm diese Anstrengung niemals erlauben dürfen!
Wenn er hier kollabierte   … Seine hellen Baumwollhosen hatten seitliche Taschen auf den Oberschenkeln. Ich knöpfte sie auf, konnte aber keine Tabletten
     finden.
    «Da sind sie nicht.» Ich versuchte, nicht so besorgt zu klingen, wie ich war.
    Er hatte seine Augen vor Schmerz zusammengekniffen. Seine Lippen waren blau geworden. «Hemd   …»
    Ich tastete seine Hemdtasche ab und fühlte etwas Hartes.
Gott sei Dank!
Ich zog das Döschen hervor, drehte den Deckel ab und schüttelte eine der winzigen Pillen

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