Leichenblässe
müde, außerdem wollte ich schauen, wie es Tom ging. Doch aus harter Erfahrung hatte ich gelernt, nichts als selbstverständlich
hinzunehmen.
«Ich schaue sie mir lieber mal an», sagte ich.
Das Fähnchen steckte zwischen den freigelegten Wurzeln einer verkrüppelten Kiefer. Obwohl sie nicht weit entfernt vom Brustkorb
lagen, konnte ich die schmutzigen Klumpen erst sehen, als ich dicht davorstand. Es waren vier Backenzähne, die mit Dreck überzogen
und zwischen den Kiefernnadeln schwer zu erkennen waren. Dass sie überhaupt gefunden |198| worden waren, war ein Beweis für die Gründlichkeit der Suche. Doch als ich sie betrachtete, hatte ich das Gefühl, dass etwas
nicht stimmte …
Die Hitze und die Beschwerden waren sofort vergessen, als mir klar wurde, was es war.
«Wie gesagt, es sind nur Zähne. So, sind Sie dann fertig?», fragte Jerry, als ich sie fotografierte. Dieses Mal war der Wink
noch deutlicher.
«Haben Sie schon Fotos davon gemacht?»
Er warf mir einen Blick zu, als würde er mich für einen Idioten halten. «Doc, wir haben Fotos ohne Ende.»
Ich richtete mich auf. «Ich würde trotzdem noch ein paar von den Zähnen machen. Sie werden sie brauchen.»
Er starrte mich an, doch ich ließ ihn stehen und machte mich auf den Weg durch den Wald. Der Schweiß rann mir den Rücken hinab,
als ich das klaustrophobische Kieferndickicht verließ und dankbar meine Maske abnahm. Ich öffnete meinen Overall, duckte mich
unter dem Absperrband hindurch und schaute mich nach Tom um. Er stand etwas abseits im Schatten der Eibenhecke und sprach
mit Gardner und Jacobsen. Er schien sich erholt zu haben, doch meine Erleichterung verflog sofort, als ich sah, dass Hicks
bei ihnen war. Einen Moment später hörte ich seine laute Stimme.
«… keine rechtliche Befugnis bei dieser Ermittlung! Das wissen Sie genauso gut wie ich!»
«Machen Sie sich nicht lächerlich, Donald. Das ist doch reine Haarspalterei», sagte Tom.
«Haarspalterei?» Die Sonne schimmerte auf dem kahlen Kopf des Pathologen, als er sein Kinn vorreckte. «Ist es auch Haarspalterei,
wenn der Richter einen Mordprozess platzen lässt, weil ein Experte im Zeugenstand einen
Assistenten
unbeaufsichtigt über einen Tatort trampeln ließ? Einen, der |199| wahrscheinlich nicht mal mehr im
Land
ist, wenn dieser Fall vor Gericht kommt?»
Man musste nicht lange rätseln, über wen sie sprachen. Als ich zu ihnen ging, verfielen alle in Schweigen.
«Wie geht es dir?», fragte ich Tom. Eins nach dem anderen.
«Gut. Ich brauchte nur etwas Wasser.»
Aus der Nähe konnte ich sehen, dass er zwar noch blass war, aber wesentlich besser aussah als zuvor. Sein Blick sagte mir
deutlich, dass ich seinen Anfall vor den anderen nicht erwähnen sollte.
Ich wandte mich an Gardner. «Gibt es ein Problem?»
«Und ob es ein Problem gibt!», mischte sich Hicks ein. Trotz seiner Entrüstung schien ihm die Situation zu gefallen.
«Vielleicht besprechen wir das ein anderes Mal», schlug Gardner leicht genervt vor.
Doch der Pathologe ließ sich nicht aufhalten. «Nein, das muss jetzt geklärt werden! Dies ist eine der größten Serienmörderermittlungen,
die die Staaten seit Jahren gesehen haben. Wir können es nicht riskieren, dass sie durch Amateure vermasselt wird!»
Amateure?
Ich presste die Lippen zusammen, damit mir nichts Unbeherrschtes herausrutschte. Jedes Wort von mir hätte die Situation nur
verschlimmert.
«David ist genauso kompetent wie ich», sagte Tom, aber ihm fehlte die Kraft, um sich durchzusetzen. Hicks fuchtelte mit einem
Finger vor ihm herum.
«Das tut nichts zur Sache! Er hätte nicht allein über einen Tatort laufen dürfen! Was sollte das, Gardner? Wollen Sie jetzt
Eintrittskarten verteilen, damit jeder hier hereinspazieren kann?»
|200| Gardners Miene war ohne Regung, doch Hicks’ Bemerkung hatte ihn getroffen. «Da ist was dran, Tom.»
«Mein Gott, Dan. David hat uns einen
Gefallen
getan!»
Aber ich hatte genug gehört. Es war offensichtlich, wohin diese Diskussion führen würde. «Schon in Ordnung. Ich möchte keine
Schwierigkeiten machen.»
Tom sah niedergeschlagen aus, aber Hicks konnte seine Schadenfreude kaum unterdrücken.
«Nichts für ungut, Dr. … Hunter, richtig? Ich bin mir sicher, dass Sie zu Hause sehr angesehen sind, aber wir sind hier in Tennessee. Diese Sache
geht Sie nichts an.»
Ich verkniff mir lieber eine Bemerkung. Jacobsen starrte Hicks mit einer unergründlichen Miene an.
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