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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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hatte, schien mir das kein zwingendes Argument mehr zu
     sein.
    Ich bestellte noch ein Glas Wein. Hinter den Bäumen ging die Sonne unter, aber es war trotz des Nebels, der sich auszubreiten
     begann, noch recht warm. Die Lampen auf der Terrasse zogen die ersten Motten des Abends an, die wie schwarze Silhouetten um
     die weißen Birnen herumschwirrten und gegen das Glas prallten. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich bei meinem ersten, Jahre
     zurückliegenden Aufenthalt in Knoxville an diesem Abschnitt des Flusses gewesen war. Ich nahm an, dass ich irgendwann einmal
     hier gewesen sein musste, aber ich hatte keine Erinnerung daran. Ich hatte damals eine enge Erdgeschosswohnung gemietet, allerdings
     in einem anderen – und billigeren – Teil der Stadt am Rand des zunehmend kostspieliger werdenden alten Zentrums. Wenn ich
     ausgegangen war, dann wohl eher in die Bars der nahen Umgebung und nicht in die teureren am Flussufer.
    Bei dem Gedanken daran wurden andere Erinnerungen wach. Wie aus dem Nichts sah ich plötzlich das Gesicht einer jungen Frau
     vor mir, mit der ich eine Weile zusammen gewesen war. Beth, eine Krankenschwester aus der Klinik. Seit Jahren hatte ich nicht
     an sie gedacht. Ich musste lächeln |215| und fragte mich, wo sie heute lebte und was sie tat. Ob sie manchmal an den britischen Forensikstudenten dachte, den sie einmal
     gekannt hatte.
    Kurz darauf war ich nach England zurückgekehrt. Und nur wenige Wochen später hatte ich meine Frau kennengelernt, Kara. Der
     Gedanke an sie und unsere Tochter erzeugte wie immer ein flaues Gefühl in mir, aber mittlerweile war ich schon so daran gewöhnt,
     dass ich nicht mehr darin versank.
    Ich nahm mein Handy vom Tisch und öffnete im Menü das Telefonbuch. Jennys Name und Nummer schienen mich schon anzuspringen,
     noch ehe ich sie auf dem beleuchteten Display markiert hatte. Ich ging die Liste der Optionen durch, bis ich zu
Löschen
kam, und hielt meinen Daumen über die Taste. Doch anstatt sie zu drücken, klappte ich das Handy zu und steckte es weg.
    Ich trank den Rest meines Weins aus und lenkte meine Gedanken in eine andere Richtung. Ein Bild der im Auto sitzenden Jacobsen
     ersetzte sie. Ich sah ihre nackten Arme vor mir, muskulös und gebräunt in der kurzärmeligen weißen Bluse. Mir fiel ein, dass
     ich nichts von ihr wusste. Nicht, wie alt sie war, woher sie kam oder wo sie wohnte.
    Aber ich hatte bemerkt, dass sie keinen Ehering trug.
    O Mann, hör auf damit
. Trotzdem musste ich lächeln, als ich ein weiteres Glas Wein bestellte.
     
    Draußen wird es dunkel. Deine liebste Tageszeit. Der Übergang
zwischen zwei Extremen: Tag und Nacht. Himmel und
Hölle. Die Erdumdrehung ist an den Scheitelpunkt gelangt,
an einen Moment, der weder das eine noch das andere ist
und doch alle Möglichkeiten von beiden verspricht.
    Wenn nur alles so einfach wäre.
    Du reinigst vorsichtig die Kameralinse und polierst sie
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dann mit einem weichen Tuch, bis das feine Glas glänzt wie
ein Spiegel. Du neigst das Objektiv, damit Licht auf die Linse
fällt, um sie auf mögliche letzte Staubflecken zu untersuchen
, die ihre perfekte Oberfläche beschmutzen könnten.
Obwohl nichts zu sehen ist, polierst du sie zur Sicherheit
noch einmal.
    Die Kamera ist dein wertvollster Besitz. Die alte Leica ist
in den Jahren, seitdem du sie gekauft hast, schwer in Anspruch
genommen worden und hat dich trotzdem nie im Stich
gelassen. Die schwarzweißen Bilder sind immer kristallklar
und so gestochen scharf, dass man hineinfallen könnte.
    Die Kamera ist nicht schuld daran, dass du nicht gefunden
hast, wonach du suchst.
    Du versuchst dir zu sagen, dass es heute genauso werden
wird wie all die anderen Male, aber du weißt, dass es nicht
stimmt. Bisher hast du immer im Schutz der Verborgenheit
operiert und ungestraft handeln können, weil niemand wusste
, dass du existierst. Das war jetzt nicht mehr so. Und obwohl
es deine Entscheidung war, ins Rampenlicht zu treten,
verändert es alles.
    Ob zum Guten oder zum Schlechten, du hast dich festgelegt
. Es gibt kein Zurück mehr.
    Du hast dich natürlich darauf vorbereitet. Du hättest das
alles nicht begonnen, wenn du keine Strategie für einen Abgang
hättest. Wenn die Zeit kommt, wirst du dich wieder in
die Dunkelheit zurückziehen können, genau wie zuvor. Doch
zuerst musst du bis zum Ende durchhalten. Der Lohn dafür
könnte groß sein, das Risiko aber ebenso.
    Du darfst dir keinen Fehler erlauben.
    Du willst glauben, dass das, was

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