Leichenblässe
Versicherungsangestellten, einen Schwarzen Mitte fünfzig und – aller Wahrscheinlichkeit
nach – einen vierundvierzigjährigen Psychologen, zwischen denen es keine offensichtliche Verbindung gibt. Das lässt darauf
schließen, dass wir es mit einem Opportunisten zu tun haben, der sich seine Opfer wahllos aussucht. Männlich oder weiblich,
ich bezweifle, dass das einen Unterschied für ihn machen würde.»
«Was ist mit Irving? Er war kein wahlloses Opfer, er wurde bewusst ausgesucht.»
«Professor Irving war eine Ausnahme. Ich glaube nicht, dass er in den Plänen des Mörders eine Rolle gespielt hat, bis er im
Fernsehen aufgetreten ist. Aber dann hat der Mörder fast augenblicklich gehandelt. Und das verrät uns etwas sehr Wichtiges.»
«Sie meinen, abgesehen davon, dass er ein gefährlicher Irrer ist?»
Kurz huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, was ihre Züge weicher machte. «Abgesehen davon. Alles, was wir bisher wissen, deutet
darauf hin, dass der Mörder seine Taten bewusst und sorgfältig plant. Die Nadeln wurden
sechs Monate
bevor er die Fingerabdrücke von Dexter in der Hütte zurückgelassen hat, in der Leiche deponiert. Das zeugt von einem methodischen,
strukturierten Kopf. Was aber mit Professor Irving geschehen ist, zeigt, dass er auch eine andere Seite hat. Eine impulsive
und labile. Wenn man sein Ego verletzt, kann er sich nicht mehr beherrschen.»
Mir fiel auf, dass sie mittlerweile keinen Hehl mehr daraus |210| machte, dass Irving ein weiteres Opfer sein könnte. «Ist das gut oder schlecht?»
«Beides. Es bedeutet, dass er unberechenbar ist, was ihn noch gefährlicher macht. Aber wenn er impulsiv handelt, wird er früher
oder später einen Fehler machen.» Jacobsen musste die Augen zusammenkneifen, weil die Sonne von den Autos vor uns reflektiert
wurde. «Würden Sie mir bitte meine Sonnenbrille geben? Sie ist in meiner Jacke.»
Ich drehte mich um und nahm das ordentlich auf dem Rücksitz zusammengelegte Sakko. Der weiche Stoff verströmte einen zarten
Duft, und als ich die Taschen absuchte, spürte ich eine merkwürdige Vertrautheit. Nachdem ich die Fliegersonnenbrille gefunden
hatte, reichte ich sie ihr, wobei sich unsere Finger kurz berührten. Ihre Haut war kühl und trocken, strahlte aber eine unterschwellige
Hitze aus.
«Danke», sagte sie und setzte sich die Sonnenbrille auf.
«Sie haben vorhin seinen Plan angesprochen», nahm ich schnell den Faden wieder auf. «Ich glaube, Sie hatten bereits gesagt,
dass er sich nach Anerkennung sehnt, dass er ein … wie hatten Sie ihn genannt? Einen ‹bösartigen Narzissten›? Ist das die Erklärung?»
Jacobsen neigte ihren Kopf etwas. Jetzt, wo ihre Augen hinter der Sonnenbrille versteckt waren, sah sie noch undurchschaubarer
aus. «Es erklärt die ungeheuren Anstrengungen, die er auf sich nimmt, aber nicht, warum er eigentlich tötet. Er muss irgendetwas
davon haben, das Morden befriedigt irgendeinen krankhaften Reiz in ihm. Wenn es kein sexueller ist, was dann?»
«Vielleicht genießt er es, anderen Schmerzen zuzufügen», schlug ich vor.
Sie schüttelte den Kopf. Über der Sonnenbrille war wieder das kleine «v» zu sehen. «Nein. Vielleicht genießt er das |211| Machtgefühl, das es ihm gibt, aber da steckt mehr dahinter. Irgendetwas treibt ihn zu seinen Taten an. Wir wissen nur noch
nicht, was es ist.»
Ein Schatten fiel plötzlich auf das Auto, als ein schwarzer Pick-up auftauchte. Eine Weile fuhr das spritfressende Ungetüm
mit getönten Scheiben neben uns her, dann gab der Fahrer Gas. Der Wagen war kaum an uns vorbei, als er direkt vor uns auf
unsere Spur scherte. Ich trat automatisch mit einem Fuß auf den Boden und machte mich auf einen Zusammenstoß gefasst. Jacobsen
aber berührte kaum die Bremse und wich so geschmeidig auf die andere Straßenseite aus, als wäre dieses Manöver einstudiert.
Es war eine coole Demonstration ihrer Fahrkünste, die umso beeindruckender war, weil es ihr gar nicht bewusst zu sein schien.
Als der Pick-up davonjagte, warf sie ihm einen verärgerten Blick hinterher, schenkte ihm aber sonst keine weitere Beachtung.
Doch der Vorfall ruinierte die Stimmung. Sie wurde danach wieder distanziert, entweder weil sie mit dem beschäftigt war, worüber
wir gesprochen hatten, oder weil sie bereute, so viel gesagt zu haben. Wir waren bereits ins Zentrum von Knoxville gelangt,
und meine Stimmung sank, je näher wir dem Ziel kamen. Als mich Jacobsen vor meinem
Weitere Kostenlose Bücher