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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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als sich auf die Arbeit anderer
     verlassen zu müssen.
    Da ich zum letzten Mal vor ein paar Tagen hier gewesen war, hatte ich einiges nachzuholen. Nachdem ich durch eine kleine Tür
     in den Käfig getreten war, nahm ich Maßband, Schieblehre, Kamera und Notizblock aus meiner Tasche und |220| hockte mich zum Arbeiten hin. Aber es fiel mir nicht leicht; mir dröhnte noch immer der Schädel, und der Gedanke an das Handy
     in meiner Tasche war eine ständige Ablenkung. Als ich merkte, wie ich eine Messung zweimal machte, schüttelte ich mich verärgert.
Komm schon, Hunter, konzentrier
dich. Deswegen bist du hergekommen.
    Ich verdrängte alle anderen Gedanken und klemmte mich hinter die Arbeit. Kopfschmerz und Telefon waren zeitweilig vergessen,
     als ich meine gesamte Aufmerksamkeit auf den Mikrokosmos der Verwesung richtete. Nüchtern betrachtet, unterscheidet sich unsere
     physische Zersetzung in keiner Weise von anderen natürlichen Kreisläufen. Und wie jedes andere Naturereignis muss sie gründlich
     erforscht werden, ehe sie vollständig verstanden werden kann.
    Nach und nach machten sich körperliche Beschwerden bemerkbar. Mein Nacken war steif, und als ich Pause machte, um ihn zu dehnen,
     merkte ich, wie erhitzt und verkrampft ich war. Die Sonne stand jetzt hoch genug, um durch die Bäume zu strahlen, sodass ich
     in dem Overall zu schwitzen begann. Als ich auf die Uhr schaute, stellte ich überrascht fest, dass es schon fast Mittag war.
    Ich trat aus dem Käfig, schloss die Tür hinter mir und streckte mich. Als meine Schulter knackte, zuckte ich zusammen. Dann
     zog ich meine Handschuhe aus und wollte eine Flasche Wasser aus meiner Tasche nehmen, hielt aber inne, als ich meine Hände
     sah. Durch das Latex war die Haut blass und verschrumpelt. Das war ganz normal, aber aus irgendeinem Grund rief der Anblick
     etwas in meinem Unterbewusstsein wach.
    Es war das gleiche Déjà-vu-Gefühl wie am Tag zuvor in Steeple Hill, und genauso wie dort war es schwer fassbar. Da ich wusste,
     dass ich es nicht erzwingen konnte, trank ich einen |221| Schluck Wasser. Während ich die Flasche wegsteckte, fragte ich mich, ob Tom schon mit Gardner gesprochen hatte. Für einen
     Moment war ich versucht, mein Handy einzuschalten, um zu schauen, ob ich Nachrichten erhalten hatte, doch dann blieb ich hart.
Lass dich nicht ablenken. Führ erst die Arbeit
hier zu Ende.
    Leichter gesagt als getan. Ich wusste, dass Tom aller Wahrscheinlichkeit nach mittlerweile angerufen hatte, und dieser Gedanke
     nagte an meiner Konzentration. Doch da ich jetzt auf keinen Fall klein beigeben wollte, nahm ich die letzten Messungen mit
     einer fast perversen Gründlichkeit vor, überprüfte sie mehrfach und notierte sie sorgfältig, ehe ich meine Sachen zusammenpackte.
     Dann verschloss ich den Drahtkäfig und machte mich auf den Weg zum Tor. Nachdem ich meinen Wagen erreicht hatte, zog ich Overall
     und Handschuhe aus und verstaute alles im Kofferraum. Erst dann erlaubte ich mir, das Telefon einzustellen.
    Es piepte sofort. Ich spürte, wie sich mein Magen vor Aufregung verkrampfte. Die Nachricht war kurz nach meiner Ankunft auf
     der Body Farm gesendet worden, und als mir klar wurde, dass ich Toms Anruf nur um wenige Minuten verpasst hatte, ärgerte ich
     mich maßlos.
    Doch die Nachricht war nicht von ihm. Sie war von Paul, der mir mitteilte, dass Tom einen Herzanfall gehabt hatte.
     
    Uns ist nicht bewusst, wie abhängig wir von Zusammenhängen sind. Wir definieren Menschen durch die Umgebung, in der wir sie
     normalerweise sehen, aber wenn sie dort herausgerissen werden, wenn sie sich an einem anderen Ort und in einer anderen Situation
     befinden, spielt unser Gehirn verrückt. Alles Vertraute wird plötzlich fremd und beunruhigend.
    |222| Ich hätte Tom nicht erkannt.
    Auf seiner Nase saß eine Sauerstoffmaske, und in seinem Arm steckte ein Tropf, der mit Klebebändern fixiert war. Er war durch
     Kabel mit einem Monitor verbunden, auf dem flackernde elektronische Linien stumm seinen Herzschlag aufzeichneten. Aus dem
     weiten Krankenhaushemd ragten seine Unterarme hervor, blass und dürr wie die eines alten Mannes.
    Aber mit der grauen Haut und den eingefallenen Wangen war es auch der Kopf eines alten Mannes, der auf dem Kissen lag.
    Der Herzanfall hatte ihn am vergangenen Abend im Leichenschauhaus ereilt. Er hatte lange gearbeitet, weil er die Zeit aufholen
     wollte, die er draußen in Steeple Hill verloren hatte. Summer hatte ihm geholfen, doch

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