Leichenblässe
Hotel hinausließ, war ihre Zurückhaltung
so undurchdringlich wie eine Mauer. Die Sonnenbrille verbarg ihre Augen, als sie mit dem knappsten Nicken davonfuhr und mich
auf dem Gehweg stehenließ. Vom Kriechen durch den Kiefernwald taten mir alle Gelenke weh.
Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Ich wusste nicht, ob mein Ausschluss von der Ermittlung
die Leichenhalle mit einbezog, und ich wollte Tom nicht anrufen, um zu fragen. Und solange nicht klar war, wie |212| die Dinge standen, hatte ich auch keine Lust, ins Institut zu gehen.
Als ich dort im strahlenden Sonnenschein des Frühlings stand, inmitten der Leute, die geschäftig an mir vorbeiliefen, wurde
mir erst richtig bewusst, was geschehen war. Die Fahrt mit Jacobsen hatte mich davon abgelenkt, doch nun musste ich der bitteren
Realität ins Auge sehen.
Zum ersten Mal in meiner Karriere war ich von einer Ermittlung ausgeschlossen worden.
Ich duschte und zog mich um, kaufte mir dann ein Sandwich und aß es am Flussufer, wobei ich die Kanus betrachtete, mit denen
Touristen vorbeipaddelten. Wasser löst eine irgendwie ursprüngliche Ruhe aus. Es scheint uns tief im Unterbewusstsein zu berühren
und uns an die Zeit im Mutterleib zu erinnern. Ich atmete die leicht schwüle Luft ein, beobachtete eine Schar Gänse, die flussaufwärts
zog, und versuchte mir einzureden, dass ich mich nicht langweilte. Im Grunde wusste ich, dass ich die Sache auf dem Friedhof
nicht persönlich nehmen durfte. Ich war in Hicks’ Kreuzfeuer geraten und zum Kollateralschaden eines Kompetenzgerangels geworden,
das mich nichts anging. Ich sagte mir, dass ich es nicht als Gesichtsverlust betrachten sollte.
Aber bessere Laune bekam ich dadurch nicht.
Nachdem ich aufgegessen hatte, spazierte ich ziellos durch die Straßen und wartete darauf, dass mein Telefon klingelte. Mein
letzter Aufenthalt in Knoxville lag lange zurück, und seitdem hatte sich die Stadt sehr verändert. Die Straßenbahnen gab es
aber noch, und die Sunsphere, die Sonnenkugel auf dem Stahlturm, war eine unübersehbare Attraktion geblieben.
Doch ich war nicht in der Stimmung für einen Stadtbummel. |213| Mein Handy blieb standhaft stumm und war nur ein überflüssiges Gewicht in meiner Tasche. Ich spielte mit dem Gedanken, Tom
anzurufen, wusste aber, dass das sinnlos wäre. Sobald er konnte, würde er sich bei mir melden.
Es war später Nachmittag, als ich endlich von ihm hörte. Mit müder Stimme entschuldigte er sich für das, was am Morgen geschehen
war.
«Hicks wollte sich nur groß aufspielen. Ich werde morgen noch einmal mit Dan reden. Sobald sich die Aufregung gelegt hat,
wird er die Sache bestimmt vernünftiger sehen. Aber es spricht nichts dagegen, dass du wenigstens weiter mit mir in der Leichenhalle
arbeitest.»
«Was wirst du in der Zwischenzeit machen?», fragte ich. «Allein kommst du nicht zurecht. Warum lässt du dir nicht von Paul
helfen?»
«Paul ist heute nicht in der Stadt. Aber Summer wird bestimmt wieder einspringen.»
«Du darfst dich nicht überanstrengen. Warst du schon beim Arzt?»
«Mach dir keine Sorgen», sagte er in einem Ton, der mir klarmachte, dass jedes weitere Wort umsonst war. «Mir tut das alles
wirklich leid, David, aber ich werde die Sache klären. Warte erst einmal ab.»
Mehr konnte ich wohl kaum tun. Ich beschloss, nicht zu verzagen und den Rest des Abends zu genießen.
Ein bisschen
Freizeit wird dich nicht umbringen.
Die Bars und Cafés begannen sich langsam zu füllen, vor allem mit Büroangestellten, die sich auf dem Heimweg ein Feierabendbier
genehmigten. Das Lachen und die Gespräche klangen einladend, sodass ich spontan in ein Lokal ging, das eine Holzterrasse am
Flussufer hatte. Ich fand einen Tisch am Geländer und bestellte ein Bier. Und während ich die untergehende Sonne |214| genoss, betrachtete ich den träge dahinfließenden Tennessee River, auf dessen spiegelglatter Oberfläche unsichtbare Strömungen
kleine Wellen und Strudel bildeten.
Ich spürte, wie ich mich nach und nach entspannte. Als ich mein Bier ausgetrunken hatte und mir kein dringender Grund zum
Gehen einfiel, bat ich um die Speisekarte. Ich bestellte Linguine mit Meeresfrüchten und ein Glas kalifornischen Zinfandel.
Nur eines, schwor ich mir, denn ich wollte am nächsten Morgen früh aufstehen, egal, ob ich Tom helfen würde oder nicht. Doch
als ich die reichhaltige, mit Knoblauch gewürzte Pasta aufgegessen
Weitere Kostenlose Bücher