Leichenblässe
ein Zufall gewesen sein?»
Doch an Jacobsens Stirnrunzeln konnte ich sehen, dass |251| ich zu weit gegangen war. «Ist das nicht ein bisschen übertrieben?»
Ich seufzte. Ich war mir selbst nicht mehr ganz sicher. «Vielleicht. Aber andererseits haben wir es mit jemandem zu tun, der
Nadeln in eine Leiche steckt, und zwar sechs Monate bevor sie durch den Verlauf der Ereignisse exhumiert wird. Es so zu planen,
dass das nächste Opfer mit Sicherheit in der Stadt sein wird, ist verglichen damit ein Kinderspiel.»
Jacobsen schwieg. Ich trank einen Schluck Kaffee und ließ sie zu ihren eigenen Schlüssen kommen.
«Damit würden wir unglaublich viel in einen Telefonanruf hineinlesen», entgegnete sie schließlich.
«Ich weiß», pflichtete ich ihr bei.
«Aber ich denke, man sollte die Sache überprüfen.»
Eine Spannung, die mir bis zu diesem Moment nicht einmal bewusst gewesen war, ließ von mir ab. Ich war mir nicht sicher, ob
ich erleichtert war, dass eine mögliche Spur verfolgt wurde, oder nur dankbar, dass sie mich ernst genommen hatte.
«Also werden Sie das Telefon nach Fingerabdrücken untersuchen lassen?»
«Ein Team der Spurensicherung ist bereits dort, obwohl ich bezweifle, dass man nach vierundzwanzig Stunden noch etwas finden
wird.» Jacobsens Mundwinkel zuckten leicht angesichts meiner Verblüffung. «Sie dachten doch nicht, dass wir so etwas einfach
ignorieren, oder?»
Das Vibrieren ihres Handys auf dem Tisch rettete mich vor einer Antwort. «Entschuldigen Sie mich», sagte sie und nahm das
Telefon.
So unbeschwert wie den ganzen Tag nicht trank ich meinen Kaffee, während sie hinausging, um das Telefonat anzunehmen. Ich
beobachtete durch die Glastür, wie sie mit |252| aufmerksamer Miene zuhörte. Das Gespräch dauerte nicht lange. Nach weniger als einer Minute kehrte sie zurück. Ich rechnete
damit, dass sie sich entschuldigte und aufbrach, doch stattdessen setzte sie sich wieder an den Tisch.
Sie machte keine Bemerkung zu dem Anruf, wirkte aber plötzlich distanzierter. Hatte ich vorher noch das Gefühl gehabt, sie
würde sich ein wenig öffnen, war nun nichts mehr davon zu spüren.
Sie legte einen Finger an den Henkel ihrer Tasse und schob sie ein winziges Stückchen auf der Untertasse umher. «Dr. Hunter …», begann sie.
«Sagen Sie David.»
Das schien sie aus dem Konzept zu bringen. «Hören Sie, Sie sollten wissen …»
Ich wartete, aber sie fuhr nicht fort. «Was?»
«Es ist unwichtig.» Was auch immer sie hatte sagen wollen, sie hatte es sich anders überlegt. Ihr Blick ging zu meinem fast
leeren Bierglas, das die Kellnerin noch nicht abgeräumt hatte. «Entschuldigen Sie, dass ich frage, aber dürfen Sie Alkohol
trinken? In Anbetracht Ihrer Verfassung, meine ich.»
«Meiner Verfassung?»
«Ihrer Verletzung.» Sie neigte ironisch den Kopf. «Sie werden doch gewusst haben, dass wir uns über Sie informieren?»
Ich merkte, dass ich die Kaffeetasse noch immer über dem Tisch hielt. Vorsichtig stellte ich sie ab. «Darüber habe ich mir
keine Gedanken gemacht. Und was den Alkohol angeht, ich wurde niedergestochen. Ich bin nicht schwanger.»
Sie musterte mich mit ihren grauen Augen. «Reden Sie nicht gern darüber?»
«Es gibt angenehmere Themen.»
«Hatten Sie nach dem Angriff psychologische Betreuung?»
|253| «Nein. Und jetzt will ich auch keine, danke.»
Sie hob eine Augenbraue. «Ich vergaß. Sie trauen Psychologen nicht.»
«Ich misstraue ihnen nicht. Aber meiner Meinung nach ist es nicht immer der beste Weg, mit etwas klarzukommen, wenn man darüber
spricht, das ist alles.»
«Ein echter Mann braucht keine Hilfe, was?»
Ich schaute sie nur an. In meinen Schläfen konnte ich das Pochen meines Pulses spüren.
«Ihre Angreiferin wurde nicht gefasst, oder?», sagte sie nach einem Moment.
«Nein.»
«Bereitet Ihnen das Angst? Dass sie es erneut versuchen könnte?»
«Ich versuche, mir deswegen keine schlaflosen Nächte zu machen.»
«Aber das funktioniert nicht, oder?»
Mir fiel auf, dass ich unter dem Tisch die Fäuste geballt hatte. Meine Hände waren feucht, als ich sie öffnete. «Läuft das
Ganze auf irgendwas hinaus?»
«Ich bin nur neugierig.»
Wir starrten uns an. Doch aus irgendeinem Grund war ich jetzt vollkommen ruhig, so als hätte ich eine Schwelle übertreten.
«Warum versuchen Sie, mich zu provozieren?»
Sie konnte meinem Blick nicht mehr standhalten. «Ich wollte nur …»
«Hat Gardner Sie damit
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